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Bitte komplettieren Sie selbst

■ Vorwärts im Sinne der Hauptaufgabe. Diverse Vergiftungserscheinungen

Gabriele Goettle

Unter diesem Titel schreibt die Autorin eine Serie über den realexistierenden Alltag in der DDR. Das „Komplettieren“ bezieht sich auf die Tasse Kaffee, die man an den Buffets bekommt. Mit Milch und Zucker wird „komplettiert“. Der Standardsatz schien uns ausgesprochen symbolisch fürs Ganze zu stehen. Die letze Folge erschien am 16.1., die nächste können Sie in einer Woche lesen.

27.11.89

Wir verlassen Leipzig Richtung Markkleeberg. Unser Ziel ist die Umgebung der Braunkohleveredelungsanlage Espenhain.

Draußen vor der Stadt liegt eine unübersehbar große Müllkippe, auf der sich Tausende von Krähen tummeln. Möwenschwärme umkreisen im Segelflug die ankommenden Wagenladungen, und auch die Krähen haben bereits ein Auge darauf geworfen. So entsteht unentwegt lautstarker Streit, ein Auf- und Niederfliegen, dazwischen schieben Raupenbagger den Müll vor sich her und walzen ihn platt. Auf den Zaunpfosten neben der Straße nehmen ab und zu große Raubvögel Platz, um streng, mit schräg geneigtem Kopf und gelben Augen, die Lage zu überprüfen. Atzung ist nur hier zu haben.

Gleich nebenan findet sich auf einem riesigen Areal weder Wurm noch Maus, kilometerweit dehnen sich die Abraumhalden des Braunkohlereviers dahin. Gigantische russische Fördermaschinen nagen sich im Tageabbau durch tiefe Gruben vorwärts und versetzen Berge. Alles, Dörfer, Wiesen, Felder und Wälder sind verschwunden unter dieser bröselig schwarzen Wüstenei. Der Schatz ist gehoben, zurück bleibt ein Katastrophengebiet.

Espenhain ist schon von weitem zu sehen, wie bei einem Großbrand wälzen sich gewaltige schwarze Rauchmassen am Horizont entlang; heute nicht Richtung Leipzig, sondern nach Desden zu. Beim Näherkommen zeichnet sich ein Gewirr von Schornsteinen und Kühltürmen ab. Der Koloß steht und bringt Rauch hervor, als sei das sein ausschließliches Produktionsziel. An den Gebäuden, die zur Straße hin liegen, hängen ehemals rote Spruchbänder mit aufmunternden Losungen, die besagen, daß all dies nötig ist zur Sicherung des Friedens.

Die Straße zu dem kleinen Dorf Mölbis wird links überragt von alten Abraum- und Schlackehalden, auf denen sich widerwillig zwar - ein paar kleinwüchsige Birken und hartnäckige Goldrauten niedergelassen haben. Abgestorbene Obstbäume und rostende Förderanlagen stehen sinnlos herum.

Am Dorfeingang plaudern zwei alte Frauen miteinander neben einem Leiterwagen voller Briketts. Einige der Häuser scheinen noch bewohnt, viele verfallen bereits, die Holzzäune sind umgesunken, in den Fensterrahmen fehlt das Glas, auf den Dächern die Ziegel. Schmutziges Geflügel geht herum, es gibt kleine Höfe, Siedlungshäuser aus den dreißiger Jahren und einige Neubauten. An Ende des Ortes liegt ein halb zugefrorener Weiher, das Eis ist schwärzlich. Die Kirche verrät auf einen - mittlerweile geschulten Blick, daß hier ein Pfarrer am Werke ist. Regenrinne, Ablaufrohre und Blitzableiter sind neu.

Die Erde ist hier von einer dicken schwarzen Rußschicht bedeckt, mit dem Schnee zusammen vermischt sie sich zu dickem schwarzem Matsch. Es empfiehlt sich, auf den asphaltierten Wegen zu gehen. Am Kulturhaus hängt ein Zettel, der besagt, daß dieses Objekt mit irgendeiner Chemikalie behandelt wurde, Unterschrift: Kurt Busch, Schädlingsbekämpfungsmeister. Offensichtlich erobern bereits resistentere Lebewesen das sinkende Schiff.

Im Zentrum des Ortes liegt der Konsum, ein kleiner Laden, mit mannshohem Eisenofen. Hier arbeiten die freundlichsten Verkäuferinnen, die uns in der DDR begegnet sind. Am Platz residieren auch Bürgermeister und Pfarrer, das Pfarrhaus wirkt recht schmuck. Auf der Anschlagtafel des belebten Platzes hängt folgende Mitteilung: „BSG-Aktivist Espenhain Mölbis. Fröhlicher Gesang kann den Staub vom Herzen waschen

-in diesem Sinne laden wir sie herzlich ein zum Familiennachmittag, gemischter Chor, 12.11.89.“

Einen, bei dem es offenbar nicht genutzt hat, treffe ich vor dem Konsum. Der alte Mann hustet röchelnd und stellt den Einkaufskorb ab. Daneben nimmt wachhabend der Hund Platz. Als der Husten nachläßt, klopft sich der Mann mit der Faust aufs Brustbein, lächelt mich an und sagt: „Asthma. Aber gestern hättense mal hier sein müssen!“ Wir kommen ins Gespräch, und plötzlich rast der kleine Hund davon, um bellend eine Frau zu begrüßen; „da kommt Frauchen“, sagt der Mann, halb dem Hund hinterher, halb zu mir. Sie wehrt den Hund lachend ab, hat schon den ganzen Mantel voller Pfotenabdrücke, und fragt: „Sind das Ihre dort im Auto? Also ist sag Ihnen eines, lassense die Hunde nur nich raus hier bei uns, den Dreck, den die ins Auto tragen, den kriegense nie wieder weg!“ Der Mann klopft seiner Frau vergeblich den Schmutz vom Mantel und sagt: „Wennwer das nur wieder abkriegen... wissense was, kommense doch mit auf einen Kaffe zu uns, wir wohnen gleich da drüben.“

Ich sage Elisabeth Bescheid, sie unterhält sich mit einem blondgelockten Alternativler. Es ist der Pfarrer, von dem sie auch gerade zum Kaffee eingeladen wurde. „Der Dallmann“, erklärt mir mein Gastgeber, während wir einen verödeten Platz überqueren, „der engagiert sich hier für alles. Wenn wir den nicht hätten, wärn wir wohl immer noch vergessen. Und wenn einer freiwillig hierher kommt, dann hat der schon Mut!“ Und die Frau fügt hinzu: „Kinder hat der sogar mitgebracht. Nu denkense ma! Die müssen das jetzt auch aushalten.“

Wir sind da. Das Haus wirkt ein wenig städtisch, ist von einer Mauer umgeben. Hinten liegt der kleine Gemüsegarten, daneben ein ehemaliger Stall. Das Gemüse essen sie, wenn auch mit gemischten Gefühlen, „man will es ja nicht verkommen lassen“. Auf Strümpfen steigen wir die Treppen hoch, ich werde in die geräumige Wohnküche gebeten. Ein wunderschöner alter Küchenherd mit Wärmeaufsatz und Wasserschiff gibt leise Summtöne von sich. „Da sehnse, das Wasser kocht schon“, sagt die Frau, brüht Kaffee auf, holt aus einem 50-Jahre-Küchenbuffet Geschirr hervor und verteilt es auf der verblichenen Wachstuchtischdecke. „Der is nich mit Geld zu bezahlen, der Ofen, is noch vom Vater meines Mannes. Um halber zweie hab ich aufgelegt und nu isses halber viere, alles macht der uns warm.“ Ihr Mann fügt lachend hinzu: „Und Kohle gibts ja genug hier.“

Auf dem Küchenschrank steht eine beachtliche Anzahl von Medikamenten. Die seien für alles mögliche, gegen das Asthma, die Kreislaufstörungen, Halsschmerzen, zuviel Magensäure usf. „Nu essense mal ein Brötchen, ich hab extra welche aufgebacken“, ermuntert mich die Gastgeberin und bestreicht es sorgsam mit Butter, der Hund liegt zusammengerollt auf einem alten Sofa und beobachtet unter halb gesenkten Lidern die Vorgänge. Fast könnte man die brutale Realität dieses Dorfes vergessen.

Das Paar erzählt mir seine Geschichte, die zugleich die des Ortes ist, und geht dabei - wie es gewöhnlicherweise geschieht zum Glück - nicht chronologisch vor. Sie erlaubten mir, mein Tonbandgerät aufzustellen, das sie erstaunlich schnell ignorierten. Der Authenzität halber sei das Berichtete hier im O-Ton wiedergegeben:

Mann: Der Smog, der is hier eigentlich immer, man kann sagen, 310 Tage im Jahr so. Kaum hat sich der Wind gedreht, gehn die Frauen die Wäsche reinholen.

Frau: Wennse die hängen lassen, könnense alles gleich nochmal waschen, so sieht die dann aus!

Mann: Und das Gras draußen... alles Gift! Aber die LPG verfüttert es. Das Geflügel rennt rum, sogar die Schafe stehn sonst draußen.. heute ham sie sie komischerweise drinne. Ich bin ja hier geboren. Das Haus hat mein vater gekauft damals, von einem Junggesellen, der weg wollte nach Leipzig.

Frau: Nu simmer alt und kriegen Rente. Ich krieg ja nur 350 Mark. Guckense, meine Eltern, die warn Neubauern damals, wir sind von Oberschlesien hergekommen, wo das richtig anfing. Da mußte erst alles aufgebaut werden, und wir ham auf dem Hof gearbeitet. Gesteuert ham die nicht, war ja viel zu wenig da.

Mann: Wie wir damals gearbeitet ham, da kriegten wir zusammen nich so viel wie heutzutage einer kriegt. Sagen wir mal, wir ham aufgebaut für nischt und wieder nischt, das Geld kriegten andere.

Frau: Später sind wir dann alle beide ins Werk gegangen, hatten dann anfangs so vierhundert jeder gekriegt, mein Mann sogar mehr. Das war dann Schichtarbeit und davon ham wir uns ein Motorrad gekauft und schöne Fahrten gemacht... bis wir dann den Unfall hatten.

Mann: Mir ist ja nichts passiert, auch im Kriege nich. Vierzig bin ich eingezogen worden, da gabs das Werk schon, das ham die Nazis gebaut, und ich weiß das bloß vom Hören, es is dann bombardiert worden, war ja ein kriegswichtiger Betrieb, es wurde ganz schön beschädigt, aber weitergearbeitet ham sie trotzdem.

Frau: Kaputt isses ja eigentlich immer noch!

Mann: Sie ham es reapariert, es is aber damit nich besser. Neulich hab ich einen Kollegen getroffen, der arbeitet noch, und der sagt mir: Du, jedesmal, wenn ich da reingeh, wird mir himmelangst, da is alles kaputt, alles! Da wird hier geflickt und da geflickt, ohne Rücksicht. Dann fahren sie dauernd Überkapazität, das kann einfach nicht gutgehn. Bedenkense mal, da arbeiten über 6.000 Leute. Im Radio ham sie gesagt, daß die Reparatur von der Bude mehr kostet, als ne neue hinbaun. Wenn da mal was passiert, dann sind wir alle tot.

Frau: Da muß nich mal was passieren! Sehnse mal, der Hund zum Beispiel, der war grade wieder krank, wir warn beim Tierarzt mittn, hat gebrochen, Durchfall gehabt und nich gefressen und getrunken eine Woche lang. Und was war? Er hat draußen Gras gefressen, nachdem das Gas da war. Nu, und das is der Hund! Was is mit den Kindern? Alle sindse krank, ham Krupp, Krätze, Kopfweh, Magenschmerzen, Rotz schon von klein auf. Sowas tut einem richtig weh. Wennse manchmal im Bette liegen nachts, da wird einem richtiggehend schlecht... also wir sinds ja gewöhnt, trotzdem, das hält man nicht aus!

Mann: Das stinkt wie die Hölle! Schwefel, Phenol, dann wie von Katzen... die sollen das eigentlich immer alles gleich wegbringen, da soll gar nichts lagern, aber sie bringens nich weg! Wie das stinkt, das kann sich kein Mensch vorstellen, da kommt man fast um bei. Wenn Südwestwind ist, dann sitze ich nur und ringe nach Luft, alles hier, man kann alles dicht machen, es kriecht durch jede Ritze. Und nu denkense ma, das dann auch im Sommer!

Frau: Und nachts, da lassense alles raus... noch zusätzlich.

Mann: Die holen aus dem Werk raus, was rauszuholen geht. Der Schlotter (Betriebsdirektor) verspricht schon seit Jahren Besserung, alles leeres Gerede das, sie machen nachts die Filter aus, dann könnense höher fahren, den Dreck bläst es auch raus, alles auf unsere Kosten. Gesagt ham sie, neue Filter, die kosten ein paar Millionen, dafür is kein Geld da bei uns. Bis Anfang Siebzig wars lange nich so schlimm wie heute.

Frau: Nee, früher wars besser. Ich hab ja auch gearbeitet im Werk, Schicht in der Kohleförderung, da kommt das an auf dem Band für die Kessel, die ganze Kohle wird in den Bunker geleitet, man muß das Band kontrollieren, was runter fällt, wird aufgeschippt.

Mann: Das sind Tonnen und Abertonnen, was da verarbeitet wird am Tag. Fliegt aber nu fast alles wieder oben raus aus den Schornsteinen, die Energie kann gar nich voll genutzt werden, nur ein Teil... wenn die zum Beispiel eine Maschine warten über Nacht, da kommense nich zum Schlafen, so ein Gerausche und Gefauche ist das. Die Kinder weinen vor Angst. Ich hab an den Maschinen mit herumgearbeitet, den Dampfturbinen, 50 Megawatt, 100 Megawatt... war gar nich einfach. Bin qualifiziert worden damals drei Jahre lang, dann war ich Lohngruppe sieben. Einmal is ein Kessel explodiert... wann war das?

Frau:Na, das muß so in die Sechzig gewesen sein, Tote hat's gegeben. Wir hatten Nachtschicht, da ham welche gesagt: irgendwas stimmt hier nich, man sollte vielleicht erst mal abstellen und gucken, was los ist. Das ham sie von oben her dann doch nich gemacht, und so isses passiert.

Mann: So is das bei uns... wir hattens nich leicht. Vieles ham sie ja auch richtig gemacht, wie das mit dem Land, das gehörte ja mal alles zum Rittergut, all die ganzen Ländereien.

Frau: Dem Großgrundbesitzer wurde das weggenommen, dann hat mans verteilt, sagen wir mal, jeder kriegte genug Land, ne Kuh, etwas Geflügel...

Mann: Andererseits, wissense, die nu wieder, die vorher keine Bauern waren, die konnten gar nichts, nich mal ne Sau schlachten, nichts!

Frau: Dann ham sie LPG gemacht von oben, da wurde nochmal alles enteignet...

Mann: Das war nu wieder nötig! Die wärn ja alle eingegangen. In der LPG ham die ganzen Bauern mit ihrer Routine die Sache gerettet, die konnten alles, das haben sie den anderen beigebracht, sogar Wurst machen.

Frau: Die LPG gibts immer noch, aber sie is nich mehr wie früher, die machen ihre Arbeit und ihren Feierabend, komme was wolle.

Mann: Früher, wenn Regen kam, da sind alle schnell raus zum Heu. Jetzt isses so, wenn ein Gewitter am Himmel kommt, ja dann sagen die: ich hab Feierabend, is ja LPG, is doch egal. Anderereits, vergiftet is sowieso alles, also mir wärs das Liebste, wennse die Bude zumachen würden! Damit der Mensch mal wieder Atem schöpfen kann.

Frau: Also daran glaub ich nich. Wir hatten hier mal zwölf-, dreizehnhundert Einwohner. Jetzt sind wir kaum noch Vierhundert, alle sind sie weggezogen, auch die Jungen wollen alle weg. Es soll ja der Ort weg, 92, weil unter uns Kohle liegt. Mal heißt es so, mal so, was nu davon stimmt, weiß keiner, und wir glauben auch keinem mehr. Da sind eines Tages die Taxer gekommen, sechs Stück warn im Dorf, die ham alles getaxt, mitgerechnet, Boden, Stall, Garten...

Mann: Wer ein Haus hat, der sollte anderswo ein Einfamilienhaus kriegen. Da sind wir auch schon mal gewesen, eines anschaun, kurz vor Leipzig. Na, die Lage war ja schön, aber sowas von kaputt...

Frau: 20.000 wollten sie haben, und 50.000 hätten wir reinstecken müssen. Das Dach... und drinne alles kaputt, die Öfen, das Bad fehlte. Wir kennen das ja, nach die Fenster hier im Haus ham wir fünf Jahre warten müssen. Die hat uns der Tischler gemacht, hier braucht man ja Doppelfenster, und was das gekostet hat.

Mann: Das taxiert der nich mit. Allein die Maurer. Heute verlangense 15 Mark die Stunde, früher warns Siebene. Wir ham Bad reingebaut unten und oben und Wasserspülklosett, können sich das ruhig mal angucken nachher. Sagt der, wir sollen die Rechnungen bringen. Aber wer hat denn ne Rechnung nach so langer Zeit? Eingebaut hab ich auch selber. Da wird man ganz schön gehässig mit der Zeit, obwohl wir Lässig heißen (lacht).

Frau: Sagt der Taxer, na guckense mal, das is ja alles ganz schön alt, was sie hier haben. Nu, das stimmt schon, sag ich, das Haus is hundert Jahre, aber das kriegen wir nie wieder in Neu. Und, sag ich, was wir hier alles mitgemacht haben, das kann uns niemand ersetzen, sowas kann man nich taxieren.

Mann: Die versuchen doch bloß, die Preise zu drücken!

Frau: Und das is nun unser Sozialismus hier, die Kleinen schnallen immerzu den Gürtel eng, und die Großen leben in Saus und Braus, wie man es jetzt im Fernsehn gehört hat.

Mann: Der kleine Mann wird immer betrogen. Aber wir wollen ja gar nich weg hier...

Frau: Sehnse mal, mein Mann der is 78 und ich bin 62, schwerbeschädigt, wo sollen wir denn noch hin. Unser Hund, der is hier auch zu Hause.

Mann: Den hattense ausgesetzt. Das waren Menschen, die im Sommer in Urlaub gefahren sind, und ham ihn einfach aus dem Auto geschmissen. Mein Schwiegersohn hat ihn mitgebracht auf dem Motorrad, aber wir wollten gar keinen. Da saß er dann dort in der Ecke, so klein war er, vielleicht acht Wochen alt, und guckte so traurig, da ham wir gesagt, wir behalten doch Bello. Das is nu sechs jahre her.

Frau: Sehnse, hier an dem Haus hängen unsere ganzen Erinnerungen, auch wenns nich leicht war. Durch meinen Unfall war ich ja damals arbeitslos, Geld kriegte ich dann auch nich mehr, sie ham gesagt: was wollen sie, ihr Mann arbeitet. Da hat die LPG uns dann Zwiebeln gebracht, die konnten wir schälen. Anfangs gabs fünf Mark am Tag, später dann neun. Montags wurden die Säcke gebracht, mittwochs ham sie sie abgeholt und neue gebracht. Vierzig Pfund pro Sack. Die warn für Restaurants und Hotelküchen in Leipzig. Wenn Messe war, konnten wirs oft kaum schaffen, wir ham müssen meine Mutter holen aus Störmthal zum Helfen.

Mann: Das war was. Hinten im Stall ham wir gesessen und geweint. Später gings besser, man gewöhnt sich ja an alles. Warens Große, gings gut, für die Kleinen brauchte man die doppelte Zeit.

Frau: Mein Mann kam aus der Mittelschicht und is schälen gegangen, keinen Samstag und keinen Sonntag hatten wir für uns. Dann ham wir aber das Auto gekauft. Zehntausend hats gekostet, war fünf Jahre alt und sehr gepflegt.

Mann: Dafür nu zehn Jahre Zwiebeln schälen.

Frau: Aber man kommt ja sonst nich weg hier! Sehnse mal, um halber siebene geht der Bus nach Borna, da ist man dann halber achte dort und um Neune machen die Läden auf. Und sowas im Winter. Nee! Bei uns hier in Mölbis kommt zweimal die Woche der Fleischer, Dienstag und Donnerstag, wennse da nich gleich losgehn, is alles weg. Die ersten Zehn in der Schlange haben Glück. Wir sind ja nun unabhängig, aber denkense mal, die alten Leute hier, wenn die nich Schlach zehne dastehn, dann können sie warten bis zum nächsten Mal, dann ham sie Pech gehabt.

Mann: Da ist ne Frau, die is 86 und nich ganz gesund mehr, der bringen wir immer mit. Wir halten zusammen hier. Jetzt gibts sogar Bananen im Konsum. Eine pro Person und ein Kilo Orangen. Aber Bratheringe und Rollmöpse ham wir das ganze Jahr nich gesehn. Da fahrn wir für nach Borna.

Frau: Da is ein Russenladen, Bananen gabs, soviel man wollte, die Waren sind viel besser als im Delikat... aber die ham ja auch Kinder...

Mann: Da leben ganze Familien. Eine große Kaserne is dort, noch von früher, vom Wilhelm. Später waren die Braunen drinne, jetzt ham sie die Russen. Leicht isses für die nich dort.

Frau: Na ja, so im fremden Land.. aber demnächst, das ham wir uns vorgenommen, da wollen wir dann doch mal in Westen rüberfahren, mal gucken, wir kennen das alles ja nur aus dem Fernsehn... wie heißt das? Das für die Hunde, Pal? Es soll ja ein Dutzend verschiedene Sorten Hundefutter geben, was? Das is uns nu ja alles vollkommen fremd.

Ich lade sie ein, mich in Berlin zu besuchen. Man zeigt mir noch die Räume des Hauses, das eingebaute große Bad. Sie fragen, ob wir nicht vielleicht über Nacht bleiben möchten, weils schon dunkel ist, aber ich danke für die großzügige Einladung, wir wollen weiter. Beim Abschied nehme ich mir fest vor, ein Päckchen mit Rollmöpsen und Bratheringen zu schicken.

Elisabeth wartet schon im Auto und macht Notizen. Auch ihr wurde vom Pfarrer angeboten, über Nacht zu bleiben, damit wir es mal am eigenen Leibe... aber ich habe ohnehin eine arge Erkältung und will die Recherche nicht zu weit treiben.

Sie berichtet, daß der Pfarrer seit drei jahren in Mölbis ist. Seine Frau und die Kinder haben arg zu leiden unter den ungewohnten Luftverhältnissen, morgens haben sie alle einen dicken Hals, Auswurf, entzündete Augen. Das Pfarrhaus hängt voller Wäsche und Windeln. Er hält Umweltgottesdienste, macht Flugblattaktionen, hat, zusammen mit anderen Kirchen und Umweltorganisationen, die Aktion „Eine Mark für Espenhain“ vorangetrieben, gibt Presseinterviews und verhandelt mit dem Betriebsleiter und den Politikern. Im Werk werden Rohstoffe für die Plastewarenindustrien erzeugt: Phenol, Schwefel, Schmieröle und Benzin. Täglich gelangen über vier Tonnen Schwefelwasserstoff an die Luft, dazu fliegen weitere zwanzig Tonnen Schwefeldioxid aus den Schornsteinen. Die Anlagen werden in doppelter und dreifacher Kapazität „gefahren“. Für heute lagen die Luftwerte bei 2,14 im Halbstundenmittel. Der Grenzwert liegt bei 0,50. Die Daten werden täglich veröffentlicht seit kurzer Zeit, aber auch jetzt wird nur die Schwefeldioxidbelastung veröffentlicht, einige andere Werte, die auch gemessen werden, hingegen nicht.

Wir sind hierher nach Altenburg gefahren, um ruhig die Nacht zu verbringen, es liegt nicht in der Windrichtung jener Rauchfahnen. Bei Straßenbeleuchtung wirkt die hügelige Stadt märchenhaft verschachtelt. Die Turmuhren schlagen, im Schaufenster eines Schreibwarenladens liegen Adventskalender aus, auf denen altmodisch gemalte Bäckergesellen mit neuer Technik Weihnachtsgebäck herstellen, mitten in der Backstube steht der Weihnachtsmann und wartet mit offenem Sack, wie wir alle. Ein schöner Kalender. Etwas weiter beim Friseur wird auf dem Schaufenster mit weißer Schrift ein „Haarcocktail“ angeboten, gemeint ist offenbar die Palette des Könnens.

Im Gasthaus zum „Weißen Hirsch“ herrscht lebhafter Betrieb. In der vorderen Hälfte des Gastraumes spielen die Arbeiter Karten, hinten sind einige Tische gedeckt für Gäste, die essen möchten. Daß die DDR weitaus nicht so provinziell ist wie allgemein vermutet, kann man schon daran erkennen, daß Fremde nicht hemmungslos angestiert werden wie anderswo, in der BRD-Provinz.

Wir werden umstandslos von der Kellnerin plaziert neben ein jüngeres Paar, das bereits speist, und entscheiden uns für Schweinebraten mit Knödeln und Frischkost. Das Paar ißt gerade einen Tomatensalat, das teuerste Gericht auf der Karte mit sechs Mark. Bald kommen wir miteinander ins Gespräch. Sie arbeitet in der Kantine beim „Kraftverkehr“ (staatliche Verkehrsbetriebe), er ist Maurer und Anstreicher, geht nach der Arbeit noch „Pfuschen“ (Schwarzarbeit) und am Wochenende als Kellner.

Beide waren im Westen und sprechen mit jener Mischung aus Faszination ud Ekel - die uns nun schon bekannt ist - über die Warenflut. „Bei den Pullovern“, sagt sie, „Synthetik oder Wolle, was is nu besser, was is wärmer? Billiger kommt Synthetik, aber isses auch besser? Da steht man dann und ist begeistert, aber die Entscheidung nimmt einem keiner ab.“ Er macht ein verträumtes Gesicht und fügt hinzuz: „Ei. Waren gibts bei euch, ne sowas!“ Und als wir schon auf das übliche Lob der Videorekorder oder Autos gefaßt sind, sagt er: „Märchenbücher gibts... Grimms, Andersens.. alles, die hat man bei uns seit Jahren nich gesehn.“

Beide sind sich noch nicht einig, ob sie gehen oder hier bleiben wollen, das heißt, er möchte eigentlich lieber gehn, sie eher bleiben. „Jetzt isses bei uns ja zum ersten Mal alles offener, aber bis sich in diesem Staat wirklich was ändert, da vergehen zehn Jahre oder mehr. Ob wir also hier oder drüben bei Null anfangen... das Risiko, daß wirs nicht schaffen, is vielleicht drüben das gleiche“, erklärte er, aber sie hält ihm entgegen: „Zu was willste denn dann erst rüber?! Hier wissen wir wenigstens, wos lang geht, is doch so!“

Und auch jetzt kommt, ohne daß wir das Thema auch nur berührt haben, die Rede auf die „Republikaner“. Es scheint so, als halte man jeden Westler automatisch für einen „Republikaner“. Mit völliger Zwanglosigkeit beklagt der Mann „das Problem mit den Ausländern“, die alle „raus“ müssen. Deshalb sei er noch lange kein Rassist, gegen „Neger“ habe er nichts in Afrika und gegen „Vietschis“ nichts in Vietnam, aber hier seien sie fehl am Platz. Und dann bricht es aus ihm heraus: „Die Vietschis da, die machen doch bloß Ärger. Nehmense mal ein Beispiel: Im Wohnheim, da sitzense zu Zehne auf der Bude, ham vom Betrieb alle Material mitgenommen und machen nun in Heimarbeit an ihren Nähmaschinen einen runter. Die Kleidung bringense morgens fertig in den Betrieb, hängen sie auf den Bügel, und so machen sie die doppelte Norm, verdienen das Doppelte und drücken für die Deutschen die Norm hoch. Die verstehn nich, was sie da anrichten, daß es bei uns anders langgeht, daß sie sich verhaßt machen.

Und dann, hier in Altenburg muß man es sich gefallen lassen, daß Vietschis und Nigger, das ganze Viehzeugs, in unseren ehemaligen Stammkneipen sitzt und wir da nich mehr reinkommen. Ja, wo gibts denn sowas! Ei, da hats schon so manchen Ärger gegeben, da ziehn die gleich das Messer, die schrecken vor nichts zurück, na ich kann ihnen sagen, so manche Schlägerei war fällig... aber am nächsten Tag sitzen sie wieder drinne, bis unsereiner es aufgibt.“

Ein junger Mann, mit dem Paar offensichtlich bekannt, setzt sich an den Tisch und öffnet die westliche Daunenjacke. „Geschafft!“, sagt er und klopft mit den Knöcheln auf den Tisch. „Ich mach rüber, in einer Woche kann ich anfangen.“ Er zieht einen Geschäftsbrief aus der Brusttasche und liest vor: Ein Unternehmen in München stellt ihn als Schlosser ein, Zimmer vorhanden, Stundenlohn 15 DM. Dem Begießen dieser frohen Botschaft, des Lohnes, den man für hoch hält, wollen wir nicht mehr beiwohnen und verabschieden uns.

Es findet sich eine ebene stille Gasse mit Brücke, unter der ein Flüßchen gluckert. Erst am nächsten Morgen sehen wir, daß es hellrosa ist. Auch verfliegt der märchenhafte Eindruck vom vergangenen Abend etwas angesichts der zerfallenden Häuser aus Renaissance-Barock und Biedermeierzeiten, wenn's auch ein gewisser Trost ist, daß es hier noch Häuser gibt, die bei uns längst abgerissen wurden oder bis zur Sterilität saniert.

Aber die Bürger steigen über die vielen steilen Wege ihrer historischen Stadt, gewohnt, daß sie vor sich hin bröckelt, und genießen den schönen Morgen.

Beim Spaziergang habe ich eine alte Badeanstalt entdeckt auf dem Hügel über dem Teich. Marienbad steht kaum noch leserlich über dem Eingang, aus dem Schornstein kommt Rauch. Wenig später sind wir mit frischer Wäsche und Badeutensilien auf dem Weg, der vorbeiführt an einer wilhelminisch aussehenden Schule, in der Kinder irgend ein Lied singen, das ich nicht kenne. Auf dem Dach sitzen die Tauben in einer langen Reihe nebeneinander in der Morgensonne, an den Fenstern hängen bunte Scherenschnitte.

Im klösterlich stillen, schwarz-weiß gekachelten Vorraum des Marienbades sitzt eine stämmige ältere Bademeisterin und fragt freundlich: „Einzel oder Doppelbad?“ Wir fragen nach dem Unterschied, und sie erklärt sachlich: „Bei Doppelbad ham sie zwei Wannen in der Kabine.“ Die Wahl fällt leicht, und wir folgen ihr in einen Gang, wo diverse alte Tee- und Kaffeekannen voll Fichtennadelbadezusatz für die Gäste bereitstehen. Sie öffnet eine Tür und bemerkt unsere Verblüffung, denn vor uns liegt ein etwa 15 Quadratmeter großer Raum mit braun gekacheltem Boden, weiß gekachelten Wänden, eingelassen im Boden befinden sich, rechts und links an der Wand, zwei weiß gekachelte Becken, in die drei Stufen hinabführen. „Isses nich recht, wolln sie vielleicht doch lieber Einzel?“ fragt die Badewärterin besorgt, aber wir versichern ihr, daß es uns sehr gefällt. Routiniert kniet sie nieder und dreht die Hähne auf, armdick schießt das Wasser dampfend ins Becken. „Sie mischen sichs dann selbst zurecht, nicht? Und wennse länger bleiben möchten, zahlense eben später nach, is ja kein Betrieb um diese Zeit“, sagt sie freundlich, wirft noch einen prüfenden Blick auf alles und verläßt uns.

Wir sind länger geblieben. Schon allein dieses Bades wegen hätte sich die Reise gelohnt, was derart Vergnügliches erlebt man selten. In einem sanierten Altenburg allerdings, gäbe es dieses Bad nicht mehr. Das sind eben die Widersprüche, und sie lassen sich nicht versöhnen.

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