„Bis man schließlich nur noch kotzen möchte“

■ Kay Dohnke im Interview zu den Schwierigkeiten, allein mit einem Kartografen einen Atlas zusammenzustellen

taz: Wie kommt ein Atlas auf die Welt?

Kay Dohnke: Wenn man feststellt, dass es manche Bücher, die man gerne lesen würde, nicht gibt, bleibt einem eben nichts anderes übrig, als sie selber zu machen.

Die Bibliografie zum Nationalsozialismus...

... verzeichnet 43.000 Titel.

Und kein einziges Kartenwerk?

Es gibt Martin Gilberts „Atlas der Endlösung“, aber bisher keinen Versuch zur Visualisierung der NS-Geschichte auf regionaler oder lokaler Basis. Selbst Fachhistoriker, mit denen ich während der Vorarbeiten gesprochen habe, sagten nur: „Oh, tolle Idee, warum liegt sowas nicht längst vor?“

Ein Atlas mit 60 Karten ist eine ziemlich aufwendige Angelegenheit. Wer finanziert so ein Unternehmen?

Der Europa Verlag. Es gab keine Fördermittel oder Sponsoren. Der Verlag ist vor zwei Jahren nach Hamburg umgezogen, und die Verlagsführung, zu der auch Vito von Eichborn gehört, suchte nach einem Projekt, das in der antifaschis-tischen Tradition des Hauses steht und gleichzeitig einen regionalen Bezug hat.

Und da hast du dich angeboten.

Sozusagen. Ich arbeite und pub-liziere seit über 15 Jahren als freier Journalist zu dem Thema, und so kamen wir ziemlich schnell zusammen.

Wir groß war euer Mitarbeiterstab?

Das Team bestand aus dem Kartografen, Frank Thamm und mir.

Klingt handlich.

Das war eben der Reiz an der Sache. Ein Institut hätte erstmal drei ABM-Stellen eingeworben, einen Fünf-Jahres-Etat erstellt und am Ende einen Wälzer für 148 Mark abgeliefert.

Wie lange habt ihr gebraucht?

Neun Monate.

Das ist nicht lang.

Wenn man kein Privatgelehrter mit einem vollen Konto, ist schon.

Mit welchen Quellen hast du gearbeitet?

Mit den bibliografisch zugänglichen Datensammlungen, etwa in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte oder dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Darüber hinaus haben aber auch etliche Historiker Material aus ihren bisher unveröffentlichten Forschungen zur Verfügung gestellt.

Das ist nicht unbedingt üblich.

Ja, aber einigen liegt eben doch mehr an der Aufklärung als an der Verlängerung der eigenen Publikationsliste.

Hast du die Fakten verifiziert?

So weit möglich, ja. Aber ich konnte unmöglich die Arbeit von Hunderten von Wissenschaftlern nochmal machen. Wo es abweichende Daten gab, habe ich das vermerkt.

Für einen Atlas ist euer Buch eher klein.

Das normale Hardcover-Format war die – absolut vertretbare – Entscheidung des Verlags. Der Atlas sollte in den Buchhandlungen in der Abteilung Zeitgeschichte zu finden sein und nicht in der Sammelecke für Großformate landen.

Wie umfassend ist der Atlas?

Er stellt eine Zwischenbilanz der Forschung dar und versteht sich als Angebot. Wir hoffen auf Ergänzungen und Korrekturen, die dann in einer weiteren Auflage eingearbeitet werden sollen. Es wäre schön, wenn sich daraus eine Art kollektives Fortschreiben ergäbe.

Es bleiben also Lücken?

Unser Ziel war zum einen, die großen Entwicklungen sichtbar zu machen, und zum anderen, Detailbereiche exemplarisch abzubilden. Und weiße Flecken können ja auch eine Anregung sein, vielleicht für ein Schulprojekt, sich in der näheren Umgebung mal etwas umzusehen.

Es gibt eine ergänzende Website?

Es wird eine geben. Ich hoffe, dass sie bis Jahresende steht. Bis dahin können mir Interessierte eine E-Mail schicken. Ich melde mich dann, sobald Datenlisten und weiterführende Angaben zu einzelnen Einträgen oder Orten abrufbar sind.

Macht die Arbeit an so einem Projekt eigentlich Spaß?

Nein. Die publizistische Herausforderung ist das eine, aber je tiefer man in die Quellen einsteigt, desto erdrückender tritt einem das durch und durch Negative, Zerstörerische vor Augen, bis man schließlich nur noch kotzen möchte.

Wie kompensiert man das?

Indem man als nächstes einen Reiseführer über Las Vegas schreibt.

Interview: Heinz-Günter Hollein