Biografien der "digitalen Boheme": Arbeiten, bis wir 70 sind
Verblüffende Einblicke in Arbeit und Staatsverständnis: Ein neues Buch fragt Kreative wie Ted Gaier und Kathrin Passig "Wovon lebst du eigentlich?"
Nicht jammern, jubeln solle, wer keine geregelte Anstellung hat. Ein Jahr ist es jetzt her, dass die Berliner Freiberufler Holm Friebe und Sascha Lobo in ihrem Buch "Wir nennen es Arbeit" vollmundig verkündeten, dass es "befördert durch das Internet" zahlreiche mögliche Tätigkeiten jenseits der Festanstellung gebe, mit denen man auch gut über die Runden kommen könne. Man solle daher nicht dauernd klagen, schließlich bringe es auch Annehmlichkeiten mit sich, seine Tage nicht von 9 bis 17 Uhr in einem Büro zubringen zu müssen.
Wie verlockend kämpferisch und analytisch aktuell hörte sich das an, auch wenn vieles von dem, was man da lesen konnte, kapitalismuskritischen Geistern vertraut klang. Von Ferne hallte etwa in dem neuen Lebensstil, den die Autoren dem World Wide Web anrechneten, der Datendandy nach, entworfen eine Dekade zuvor von der Agentur Bilwet aus Amsterdam. Und die polemische Übertreibung, selbst das Herumhängen in Cafés gehöre zur Arbeit dazu, ließ sich vage an Toni Negris und Michael Hardts Konzept der immateriellen Arbeit anschließen. Manch ausgebeulter Hut war da ins Pamphlet eingegangen, und doch hat schon lange keine Veröffentlichung mehr zum Thema "Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt" derart polarisiert. Das lag vor allem an der ostentativ vorgetragenen guten Laune der "digitalen Boheme", wie Friebe und Lobo ihresgleichen schnodderig bezeichneten.
Hüter des Normarbeitsverhältnisses von rechts und ganz links monierten umgehend, die glamourös fröhlichen Freien leisteten der Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt erst Vorschub. Die FAZ witterte gar "Alternativkonformismus", so sehr ähnelte ihr die neue Unternehmungsfreude der Start-up-Euphorie früherer Tage. Andernorts, in den Reihen dazwischen, wurden die Parolen dagegen mit Begeisterung aufgenommen: endlich ein Ende der "German Angst" und jemand, der mit Hedonismus das Erbe der Kapitalismuskritik pflege.
In großer Zahl strömten letztes Jahr die Zuhörer zum Kongress "neun bis fünf" über die Neuordnung der Arbeitswelt - veranstaltet von der Zentralen Intelligenz Agentur, kurz ZIA, einem Zusammenschluss freier Internetkreativer, den Friebe und Lobo in ihrem Buch als modellhaft für die nützliche Vernetzung von Freiberuflern preisen. Viele Kongressbesucher sahen sich dann allerdings in ihrer Hoffnung getäuscht, mit Konzepten für ein auskömmliches Einkommen in Zeiten der Deregulierung nach Hause gehen zu können.
Das mag einigen jenen Mut gekühlt haben, den Friebe und Lobo doch eigentlich erst machen wollten. Als Restwärmeanzeige empfiehlt sich die Lektüre eines im Herbst veröffentlichten Interviewbands aus dem Dunstkreis der ZIA. "Wovon lebst du eigentlich?", fragten Jörn Morisse, Lektor und Übersetzer ohne Festanstellung sowie Mitbegründer der Agentur, und Rasmus Engler, der sich als freier Autor und Schlagzeuger der Band Bierbeben betätigt, fast zwei Dutzend freiberufliche Künstler und Kreative. Die beiden wollten vor allem deren "Überlebensstrategien" ermitteln und den Vorwurf entkräften, die Feier des Daseins als Freier rede vor allem "einem neuen Modell des selbstständigen und flexiblen Arbeitsethos im Sinne der Marktgesetzlichkeiten das Wort". Die Herausgeber entdeckten dagegen als vornehme Triebfeder der Freiberufler "den Wunsch, sich selbstbestimmt in seiner Arbeit ein hohes Maß an persönlicher Freiheit und Kreativität zu erhalten".
Wie hoch das gewünschte Maß allerdings angesetzt wird, zeigen die Interviews in beachtlicher Bandbreite. Filmemacher Wenzel Storch merkte schon beim Zivildienst, "wie das so ist, wenn man arbeiten muss, ohne sich die Arbeit selbst ausgedacht zu haben. Ich bin auf einer Pflegestation im Altersheim gelandet, da gab es schon am ersten Tag Ärger."
Journalistin Nic Koskowski dagegen betrachtet "das Schreiben von Plattenrezensionen nicht als große kulturelle oder intellektuelle Leistung" und will darin "keinen großen Unterschied zum Bierverkaufen sehen", was sie auch "lange genug gemacht" habe. Und Autor Wolfgang Herrndorf, der einst bei der Post buckelte, gibt zu Protokoll: "Selten hat mich irgendetwas so glücklich gemacht wie dieser Gehaltsscheck am Ende des Monats."
Tatsächlich belegen die Antworten in ihrer Unterschiedlichkeit nichts so sehr wie die grandiose Grobheit des Begriffs "digitale Boheme" als soziologischer Kategorie. Nicht nur sind die wenigsten Biografien digital beschleunigt, es steckt auch sehr viel alte Boheme im Buch. Die Hubert-Fichte-Gefährtin Leonore Mau ist ebenso dabei wie Übersetzungsurgestein Harry Rowohlt oder Ted Gaier von den Goldenen Zitronen: "Ich bin in den Siebziger und Achtzigern sozialisiert worden, als man noch dachte, dass es eine parallele Infrastruktur geben könnte für die Leute, die keinen Bock haben, mitzumachen. Ich habe da noch ein anderes Selbstbewusstsein und Selbstverständnis, weil ich diese Zeit noch kenne."
Die Bröseligkeit des noch vor einem Jahr knackigen Begriffs wäre nicht weiter schlimm, zeugte nicht auch eine gewisse Griesgrämigkeit von seiner schwindenden Strahlkraft. "Ich lebe tatsächlich von meinen Auftragsfotografien, wobei ich noch nicht lange genug davon lebe, das ich die Zuversicht habe, dass es in zwei, drei Jahren noch klappt", beschreibt die Berlinerin Sibylle Fendt ihre Situation. Und Autor Wolfgang Herrndorf sieht für sich gar das "Elend des Literaturstipendiums" heraufziehen. Selbst ZIA-Agentin und Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig versprüht wenig vom alten euphorischen Charme. "Eigentlich habe ich ja Jobs ganz gerne, die man machen kann, ohne dabei besonders kreativ sein zu müssen."
Der Band gibt also einen recht realistischen Einblick in die Arbeitswirklichkeit und das Selbstverständnis von Freiberuflern im Bereich Kultur. "Ich habe lieber ein bisschen weniger Knete und kann dafür mal ausschlafen". Dass der Rückgang von Festanstellungen von vielen nicht ausschließlich bedauert wird, lässt sich auf diese Weise salopper und wesentlich umgehender empirisch untermauern, als es die soziologische Akademie könnte.
Kannibalen wie Stromberg
Die Vielfältigkeit der abgefragten Biografien dämpft allerdings die Hoffnung, es könnten sich auch nur zwei der Interviewten zu einem Arbeitskampf zusammenschließen. Sibylle Fendt erinnert sich melancholisch, "wie wir in den letzten ein, zwei Jahren an der Fachhochschule über Tagessätze diskutiert haben, und dass wir uns geschworen haben, nicht unter 150 Euro zu arbeiten, weil wir sonst den Markt kaputt machen". Auch um die erhabenen Faulheit, oberste Pflicht jedes ernstzunehmenden Bohemiens und die Nummer eins unter den Methoden individueller Verweigerung, steht es in diesen Leben nicht zum Besten: "So, wie unsere Eltern uns das immer gesagt haben: Ihr müsst arbeiten, dann klappt das schon. Es scheint fast so zu sein, als ob das stimmt," so der Hamburger Ex-Punk und Off-Galerist Ralf Krüger. Benjamin Quabeck hat während seiner Regie für "Verschwende deine Jugend" "eigentlich fünf Jahre am Stück komplett durchgearbeitet".
Das Gros der Interviewten feiert seine völlig unterbezahlten Tätigkeiten als die ganz große Freiheit: "Wenn man nebenher noch andere Jobs hat, also nicht darauf angewiesen ist, damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, kann es sehr viel Spaß machen, und man knüpft neue Kontakte bei der Arbeit", findet Sibylle Fendt. "Mit Armut kann ich ganz gut umgehen", sagt Almut Klotz, die unter anderem Musikerin bei Britta ist. Altersabsicherung? " Ich rechne damit, dass ich mit 70 noch produktiv bin", bringt sie ihre Null-Erwartungshaltung gegenüber dem Staat zum Ausdruck.
Noch geharnischter kommt der Antietatismus bei Kathrin Passig daher, die ordentlich auf "übersubventionierte" Bereiche eindrischt. Dort würde das Publikum "mit Füßen getreten", weil "diese Institutionen auf Eintrittsgelder gar nicht angewiesen sind und deswegen extrem unpopuläre Sachen machen können".
Wie kannibalisiert der Kulturbereich bei nicht einmal sinkenden Fördersummen inzwischen ist, davon zeugt andernorts auch die Polemik der Leiter des Off-Theaterfestivals Impulse, Tom Stromberg und Matthias von Hartz. Die bessere Kunst, polemisierten die beiden kürzlich in Richtung Stadttheater, entstehe jenseits staatlicher Subventionen.
In Zeiten der persönlichen Not wollen sich dabei viele, anders übrigens als Friebe und Lobo, auch nicht aus gefüllten Steuertöpfen bedienen. Almut Klotz ist im Gegensatz zu ihrer Bandkollegin Christiane Rösinger "absolut" gegen ein staatliches Grundeinkommen für Künstler: "Den Staat wie einen Papi aufzufordern, dieses und jenes für einen zu regeln, lehne ich ab. Ich will, dass mich der Staat so sehr wie möglich in Ruhe lässt." Und Ralf Krüger sagt, er habe "auch mal ein Jahr Sozialhilfe bezogen. Das war auch komisch, immer dieses schlechte Gewissen, dass einem das Geld nicht zusteht." Aber was spricht eigentlich gegen eine finanzielle Grundversorgung für alle? Die CDU, angestoßen von Thüringens Ministerpräsidenten Dieter Althaus, diskutiert das "solidarisches Bürgergeld" längst auf Bundesebene und darf sich über diese Boheme wohl ganz schön wundern.
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