Biografie über Angela Merkel: Chronik einer Kanzlerin

Ralph Bollmann zeichnet in seiner Biografie präzise das Leben Angela Merkels nach. Mit Wertungen hält er sich zurück – und räumt mit Legenden auf.

Mehrere Ausschnitte von Angela Merkel, zu einem Bild zusammengefügt.

Besteht Angela Merkels Politik bloß aus situativem Krisenmanagement? Foto: Omer Messinger

Der Chronist ist eine unterschätzte Figur. Sein Metier ist nicht das Originelle, der ­Esprit oder die kühne Idee. Er zeichnet nach, was war, und ordnet sorgsam das Material. Der Chronist ist kein Denker und Deuter, er ist für die Pflicht, nicht für die Kür zuständig. Er folgt dem Ablauf des Geschehens und macht Querverbindungen, Motive und Kontinuitäten sichtbar.

Ralph Bollmann, früher bei der taz, seit Langem Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, erzählt auf 800 Seiten Angela Merkels Leben. Er hält sich, ganz Chronist, mit Interpretationen zurück und will die Ereignisse selbst zum Sprechen bringen. Diese Biografie, die auch zeitgeschichtliche Analyse sein will, erzählt Ereignisse nüchtern nach – gewissermaßen eine stilistische Imitation von Merkel selbst.

Ralph Bollmann: „Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit“. C. H. Beck, München 2021, 800 Seiten, 29,95 Euro

Es kursieren eine Reihe Bilder von Merkel: disziplinierte Protestantin, Krisenkanzlerin, talentierte Maschinistin der Macht, postideologische Pragmatikerin. Bollmann fügt diesen Images keine neuen hinzu. Aber gerade weil die Wertungen dezent bleiben, tritt in diesem ersten Panoramablick auf Merkels Leben manches plausibel vor Augen – etwa die nachhaltige Prägung durch die DDR.

Merkel hat dort als Pfarrerstochter gelernt, zu schweigen und Vertrauen gezielt und spärlich zu dosieren. Das erwies sich nach 1989 als enormer, für die Außenseiterin im männerdominierten westdeutschen Politikbetrieb überlebenswichtiger Wettbewerbsvorteil.

Die DDR-Prägung

Die DDR hat Merkel aber nicht nur habituell, sondern auch politisch geprägt. Der Untergang des Realsozialismus machte sie, wie viele in Ostmitteleuropa, zur Marktgläubigen. 1992 attestierte sie den Westdeutschen Besitzstandswahrung. 2003 versuchte sie auf dem Leipziger Parteitag der Republik einen neoliberalen Kurs zu verordnen, eine Art Thatcherismus light. 2005 hätte sie fast die Wahl verloren, weil sie auf einem leicht entschärften neoliberalen Programm beharrte und Fehlerketten produzierte – wenn auch nicht so lange wie derzeit Armin Laschet.

Das aggressiv Neoliberale streifte sie, ausgestattet mit politischem „Hochgeschwindigkeits-Lernvermögen“, in der ersten Großen Koalition ab. Als Kanzlerin etablierte sie ihren typischen Stil: Sie strebte keine Ziele mehr an, sondern entwickelte die situative Reaktion auf Krisen zur Perfektion. „Paradoxerweise wurde Merkel gerade deshalb populär, weil sie von den Deutschen die Veränderungen lange fernhielt, die sie doch eigentlich für dringend nötig hielt“, so Bollmann.

Die Spannung zwischen der Marktgläubigen und der Mitte-Kanzlerin, zwischen Überzeugung und Machtmanagement, blieb. Sie ist ein roter Faden dieser Biografie, die sich zu zwei Dritteln mit den mannigfachen Krisen seit 2005 befasst – von der Eurokrise bis zu Fukushima, von der Krim über den Flüchtlingsherbst 2015 bis zu Corona.

Bollmann schildert präzise die Abläufe der unzähligen EU- und anderer Gipfeltreffen, auf denen Merkel ihre legendäre Strapazierfähigkeit und Professionalität beweist. Und er korrigiert mit Blick auf den Atomausstieg und das Ende der Wehrpflicht die Legenden der Unionsrechten. Beides wurde nicht vom Kanzleramt angeordnet, sondern es waren si­tua­tiv geborene Anpassungen.

„Events, dear boy, events“

Der konservative britische Premier Harold Macmillan soll auf die Frage, was seine Politik angetrieben habe, gesagt haben: „Events, dear boy, events.“ Das wäre eine genaue Beschreibung von Merkels Kanzlerschaft seit 2008. Sichtbar aber wird ein Defekt in der Euro- und der Finanzkrise. Merkel war auch als Kanzlerin noch jene osteuropäische Marktgläubige, die staatlichen Eingriffen misstraute und zudem eine protestantisch grundierte Skepsis gegen Schulden hatte.

So wurde sie zur Madame Non, die in der Finanz- und der Griechenlandkrise rasche Bekämpfungen verhinderte. Ob viele Hilfsprogramme wegen Merkel zu spät und zu klein waren, bleibt hier offen. Auf jeden Fall, so Bollmann, „unterschätzte Merkel die Irrationalität der Märkte“.

Deutschland machte so strategisch viel falsch, auch wenn die Kanzlerin taktisch immer geschickt und flexibel war. Erst in der Coronakrise gab sie ihren Widerstand gegen aktiv betriebene großformatige Hilfspakete auf. Eher nebenher revidiert diese Biografie somit das Bild von Merkel als heimlicher Sozialdemokratin. Die gab sie nur, wenn es politisch gerade vorteilhaft schien.

Sätze von Merkel sind in dieser Biografie kursiv gedruckt, um unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Diese Zitate sollen nur selten etwas beweisen oder widerlegen. Meist werden sie verwendet, um etwas zu betonen und zu illustrieren. Kein Missverständnis: Diese Biografie ist keine Hagiografie. Gerade weil das Geschilderte in die Gegenwart reicht und noch dampft, ist die zurückhaltende Darstellung angemessen. Dieses Buch setzt, sorgfältig mit Nachweisen versehen, fürs Erste einen Standard für die Merkel-Forschung.

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