: Bildungsroman im Bandenmilieu
E.L.Doctorow erzählt Billy Bathgates Geschichte ■ Von Bernd Rasche
Die korrupte Welt der Erwachsenen durch die Augen eines heranwachsenden Jugendlichen kennen- und fürchten zu lernen, hat Tradition in der amerikanischen Literatur. Anders jedoch als etwa in Salingers Der Fänger im Roggen führt E.L.Doctorows Geschichte über den jungen Billy Bathgate nicht in die blitzsaubere Mittelschichtwelt der fünfziger Jahre, sondern in das Milieu der Mafia und der dunklen Geldgeschäfte inmitten der großen Weltwirtschaftskrise — also einer Zeit, die von der ersten landesweit spürbaren Erschütterung des stets wieder neu geträumten „american dream“ geprägt ist. Für Billy, den schäbig gekleideten Jungen aus dem zweitklassigen New Yorker Stadtteil Bronx, gehen die Uhren allerdings anders als im übrigen Amerika.
Für ihn zeichnet sich mit dem Tag, an dem er als gutmütig geduldetes Anhängsel Aufnahme in die Mafiagruppe des Dutch Schulz findet, eine typisch amerikanische Erfolgsstory ab: vom Kaffee kochenden Laufburschen der Kriminellen zum letzten Erben ihres illegal angehäuften Vermögens. So glatt sich das auch anhören mag — Doctorows Roman ist mehr als die Schilderung eines spannenden Abenteuers. Die bei lebendigem Leibe vollzogene Einzementierung der Beine eines nicht länger verläßlichen „Mitarbeiters“ gleich zu Beginn der Geschichte läßt daran keinen Zweifel: „Mit den plötzlichen Ereignissen konnte ich nicht umgehen ... aber um die Wahrheit zu sagen, ging dies doch weit über das hinaus, worauf ich gefaßt war.“ Durch die unvoreingenommene Wahrnehmung der halbwüchsigen Hauptfigur wirkt die stets präsente Brutalität des New Yorker Untergrundes nur um so realer. Es ist der naive Blick des staunenden Außenseiters, der verhindert, daß sie in ein Klischeebild ihrer selbst abgleitet: „Im übrigen hatte ich das Selbstvertrauen der ganz Jungen, das in diesem Fall in der schlichten Annahme bestand, ich könnte fort, wann immer mir danach wäre ...“
Die Mitglieder der Bande werden mit der Zeit Familienersatz und Mentoren für die Entwicklung der Titelfigur zum Erwachsenen und Bandenmitglied. Sie bilden den Rahmen für einen Bildungsroman ganz besonderer Art. Durch Doctorows Fähigkeit, schnörkellos zu erzählen, gelingt es ihm, die Perspektive des ehrgeizigen Billy nahtlos mit der großen Welt von Politik, Bestechung und luxuriösen Hotelsuiten zu verbinden. Erste Schießübungen unter den Augen bestochener Polizeibeamter, die Einführung in die unbezahlte Liebe während eines kurzen Ausflugs mit der eleganten, aber zum Sicherheitsrisiko gewordenen Geliebten des Dutch Schulz zählen hier zur Rubrik der privaten (Aus-)Bildung. Durch Billys Augen erlebt der Leser mit, wie der grobschlächtige Dutch Schulz, Repräsentant einer vergehenden Unterwelt-Ära der wilden Prohibitionszeit, von der staatlichen Steuerfahndung langsam in die Enge und schließlich in den Tod getrieben wird. Barocke Sinneslust und eiskaltes Kalkül geben zunächst den Anschein einer wohlausbalancierten Lebensroutine: die Unterwelt als Hort der Geborgenheit, während das legale Amerika bei Millionen von Arbeitslosen an seiner Erfolgsideologie zu zweifeln beginnt.
Der Wunsch des jungen Billy nach Lebens- und Sinnkontinuität, den er in dem vermeintlich präzise durchorganisierten Unterweltalltag endlich erfüllt zu sehen glaubt, muß aber reine Illusion bleiben. Das Ende des Dutch Schulz und seiner engsten Mitarbeiter in einem blutigen Überfall durch den moderner und auch eleganter operierenden Konkurrenten bedeutet nicht nur das Aus für Billys „Lehrjahre“. Gleichzeitig wird damit im Roman ein tiefgreifender Umbruch der gesamten amerikanischen Gesellschaft markiert, den der geniale Buchhalter der Mafiagruppe vor Billy in seiner Sprache erklärt: „Du bist die kommende Generation ... Es ist möglich, daß dann alles glatt und stromlinienförmig ist, daß die Leute ihre Angelegenheiten in Ruhe klären ... Es kommt also, wie gesagt, eine Zeit des Zahlenlesens.“ Nicht mehr der selbstherrliche Einzelkämpfer, sondern der geschickte Taktierer im Netz der komplizierten Dienstleistungsgesellschaft wird fortan über Erfolg oder Scheitern im legalen und kriminellen Geschäftsleben bestimmen.
Doctorows Billy Bathgate erzählt daher nicht nur die Geschichte über das persönliche Schicksal eines Jugendlichen aus den Vierteln der schäbigen Bronx. Der 1989 erschienene und jetzt übersetzte Roman zeichnet mit der Wirklichkeit des inoffiziellen Amerikas ebenso die des offiziellen und rechnet insgeheim auch mit der hemmungslosen Wirtschaftsethik der achtziger Jahre unter der Reagan- Administration ab. Das fiebrige Gestammel des tödlich verletzten Dutch Schulz birgt für Billy außer den entscheidenden Hinweisen auf Millionen von versteckten Dollars keinen tieferen Sinn. Doch den unermeßlichen Reichtum kann er nur heimlich, des nachts und über Monate verteilt, in seinen Besitz bringen. Er bleibt Gefangener des Geldes in einem teuren Appartement. Die Karten wieder neu mischen zu können, um die Erfahrung eines Lebens als normaler amerikanischer Bürger zu machen, ist ihm unmöglich: „Aber ich habe es wieder und wieder getan und immer ergibt sich im Fallen derselbe Billy Bathgate, den ich aus mir gemacht habe.“
E.L.Doctorow: Billy Bathgate. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 422 Seiten, geb., 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen