Bilanz null, Erwartung null

■ Hundert Tage Rot-Grün (1): Die Regierung hat Kontinuität und Normalität versprochen. Deshalb bleibt alles beim alten

Seit 100 Tagen wird das Land aus der „neuen Mitte“ heraus regiert. Gäbe es kein Fernsehen und keinen Fotojournalismus, die das Gefälle zwischen dem schwarzen Riesen und dem rosaroten Parvenü optisch vielfältig und täglich vermitteln, hätte man den Wechsel „draußen im Lande“ kaum wahrgenommen.

Das Personal wurde ausgewechselt, einige Stühle zurechtgerückt, die Firmenwerbung neuen Agenturen anvertraut, aber sonst hat sich auch die „neue Mitte“ an die seit 1976 für die gesamte deutsche Politik gültige Devise Holger Börners (SPD) gehalten: „Ende der Fahnenstange!“ Im Klartext: Verwaltung, Entsorgung und Versorgung statt Politik. Auch auf den Rückgriff zur Dachlatte als Instrument der Problemvereinfachung, das Holger Börner im politischen Streit um die Startbahn West den Seinen empfohlen hatte, wird man nicht mehr lange warten müssen. Wenn die Hessenwahlen vorbei sind und die Planung einer weiteren Startbahn vorangetrieben wird, werden sich die Lehrlinge Börners in Wiesbaden ebenso darauf besinnen wie die Castor-Transporteure in Bonn, wenn der Atommüll aus Frankreich und England zurückkommt.

„Normalität“ und „Kontinuität“ sind die Leitplanken der rot- grünen Politik. Allein das überführt das konservative Gerede, wonach 1998 „68“ an die Macht gelangt sei, der Lächerlichkeit. „68“ muß für vieles herhalten, aber für „Normalität“ und „Kontinuität“ taugt die Chiffre nicht, selbst wenn man die Ressentiments Zukurzgekommener als Maßstab akzeptieren würde. Die „neue Mitte“ hat mit „68“ etwa so viel gemein wie die CDU mit dem C in ihrem Namen oder das FAZ-Wirtschaftsressort mit Vorstellungen von Freiheit jenseits der „Freiheit“, global zu invesiteren, zu spekulieren und zu profitieren.

Die „neue Mitte“ inszenierte das obligate Sommertheater schon Weihnachten, indem sie sich aufs muntere Ankündigen verlegte – allerlei „Reformen“, den Ausstieg aus dem atomaren Wiederaufbereitungswahn und alles subito sowieso. Peanuts for the gallery, denn es geht beim Ausstieg nicht um „Schadenersatz“ – juristisch ist die Sache wasserdicht. Aber innen- wie außenpolitisch, technisch wie finanziell ist der Ausstieg schwierig und erfordert mehr als mediale Mätzchen und winkeladvokatische Ränkespielchen: eine strategisch angelegte Politik des Ausstiegs nämlich.

Das Markenzeichen der „neuen Mitte“ ist ihre politische Substanzlosigkeit. Sozialdemokraten und Grüne hatten 16 Jahre lang Zeit, zusammen mit ihren Referenten, Apparaten, Akademien und externen Fachleuten wenigstens für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, für die Beendigung der Umverteilung von unten nach oben, für die Reform der Sozialversicherungen und des Steuersystems konkrete Ziele und Pläne zu erarbeiten. Aber die Schubladen der „neuen Mitte“ waren nach den Wahlen so leer wie ihre Reden zuvor hohl. Schon die Koalitionsvereinbarung und die Regierungserklärung machten deutlich, daß es nicht den Schimmer einer solche Vorarbeit gab, deshalb findet man dort neben ein paar populären Häppchen auch nur vage Absichtserklärungen, rückversichert durch den pauschalen Finanzierungsvorbehalt. Alles atmet den Geist von Sachbearbeiter- und Referentenprosa, aber nicht von Politik – schon gar nicht „neuer“. Wofür stattet die Demokratie die Oppositionsfraktionen mit den gleichen Mitteln aus wie die Regierungsfraktionen? Nur für das mediale Politspektakel oder auch dafür, daß sie Alternativen erarbeiten?

Schon beim Versuch, die 630-Mark-Jobbery steuer- und sozialrechtlich neu zu ordnen, verhedderten sich SPD und Grüne total und landeten mit einer Vorlage von 57 (!) Druckseiten. Nach Ansicht von Gewerkschaften, Unternehmern und Betroffenen wird die verworrene Neuregelung kein Problem lösen. Was das für den komplizierter liegenden Fall einer Steuerreform oder gar für das Minenfeld der Sozialversicherungssysteme bedeutet, sollte man – „dem Wald zuliebe“, – nicht am absehbaren Papierverbrauch messen. Schröder schwärmt von der Zukunft des Landes als „Bewegungsort“ und „Ideenfabrik“, aber seine Koalition hat bislang keinen selbständigen Gedanken hervorgebracht, ganz zu schweigen von fundierten Konzepten oder alternativen Projekten.

Eine blamable Figur machte Joschka Fischer in den letzten 100 Tagen. Zu keinem einzigen der großen Ereignisse wagte er ein klares Wort. Fischer hätte sich beim 80jährigen Giulio Andreotti in Rom Rat holen sollen. Als amerikanische und englische Flugzeuge im Zuge der Operation „Wüstenfuchs“ den Irak bombardierten, protestierte Andreotti öffentlich gegen diesen Bruch des Völkerrechts sowie dagegen, die UNO- Gremien zu schwächen und deren Generalsekretär zu demontieren. Fischer säuselte gleichzeitig in ein Mikrophon: „Die UNO zu stärken ist ein Imperativ für die Welt von morgen – nicht nur für freie Märkte, sondern auch für eine umfassende Freiheitskultur.“

Von dieser Erfindung spürten die entführten und ermordeten iranischen Intellektuellen beziehungsweise deren Freunde und Angehörige genausowenig wie die chinesischen Oppositionellen, die das Pekinger Regime verhaften, verurteilen und einsperren ließ. Außenminister Fischer fielen dazu nicht einmal ein paar klare Sätze ein, geschweige denn eine politisch-diplomatische Intervention. Angesichts von massiven Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen erweist sich Fischers „Freiheitskultur“ als das alte und schäbige Interessenkalkül in neuem Outfit.

Innenminister Schily verzichtet bewußt auf solche Sprachkosmetik. Er redet einfach so daher, daß seine BGS-Leute und alle sozialdemokratischen Stammtischkunden zustimmend nicken. Schilys Problem sind nicht die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge auf dem Frankfurter Flughafen, sondern die technische Aufrüstung des Apparats zur Erkennung, Kontrolle und Abschiebung von Flüchtlingen. Bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts möchte Schily einen Sprachtest einführen und die Ausländer über ihr Verhältnis zum Grundgesetz durchleuchten. Wie die Erfahrungen mit dem „Radikalenerlaß“ vom 28.1.1972 zeigen, ist derlei nur mit Mitteln möglich, die jenseits oder hart am Rande der Verfassungsmäßigkeit liegen. Wie gehabt: Schon bei der Änderung des Asylrechts und beim „Lauschangriff“ schützte der rechte Sozialdemokrat die Rechtsordnung, indem er kräftig dabei mitwirkte, sie erneut auszuhöhlen. Rudolf Walther