: Bilanz der laufenden Katastrophe
Integrationsbeauftragte resümiert: schlechte Bildung und skandalöse Abschiebepraxis
BERLIN taz ■ Es wäre so leicht gewesen, doch sie hat es sich verkniffen. Marieluise Beck (Grüne) hat ihre vermutlich letzte Pressekonferenz als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung nicht für Wahlkampfzwecke genutzt. Keine Warnung vor Schwarz-Gelb, kein Verweis auf die Blockade der Union beim Zuwanderungsgesetz und auch kein ausschweifendes Lob der eigenen Politik. Sachlich stellte sie gestern ihr Memorandum zur Integrationspolitik vor – und zeigte damit die wichtigsten Handlungsfelder für einen möglichen Nachfolger auf. Und die sind – trotz neuen Staatsbürgerschaftsrechts und Zuwanderungsgesetzes – im wesentlichen dieselben wie bei ihrem eigenen Amtsantritt: Bildung und Arbeit für Zugewanderte.
Das „A und O“ sei die Bildungs- und Ausbildungssituation der Migrantenkinder, sagte Beck, und die sei hoch alarmierend. Die Arbeitslosenquote der Zuwanderer liegt ohnehin bei über 20 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie die der Deutschen. Fast jeder 5. Jugendliche dieser Gruppe bleibt ohne Schulabschluss. 40 Prozent der jugendlichen MigrantInnen bleiben ohne berufliche Ausbildung. „Hier bahnt sich eine Katastrophe an“, warnte die Integrationsbeauftragte. Eine extrem alternde Gesellschaft könne es sich nicht leisten, das Potenzial der Migrantenkinder nicht zu nutzen.
In Deutschland lebten mittlerweile 14 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, Ausländer, Aussiedler, Eingebürgerte und wieder aus dem Ausland zurückgekehrte Deutsche. „Vielfalt ist Normalität“, sagte Beck. Jedes vierte Neugeborene habe einen ausländischen Elternteil, jede fünfte Eheschließung sei binational. In Westdeutschland komme fast ein Drittel aller Kinder aus Migrantenfamilien. Und selbst unter den westdeutschen Kleingärtnern hätten inzwischen 17 Prozent einen Migrationshintergrund. Beck: „Darauf muss sich die Gesellschaft einstellen.“
Positiv bewertete die Grüne den im neuen Zuwanderungsgesetz verankerten Rechtsanspruch auf Sprachkurse. Der gilt zwar nur für Neueinwanderer. Doch nach Angaben der Integrationsbeauftragten sind unter den derzeit gut 100.000 Teilnehmern auch viele MigrantInnen, die schon lange in Deutschland leben. „Von ihnen werden die Angebote stark angenommen, so als hätten sie darauf gewartet“, sagte Beck. Allerdings reiche ein einmaliger Sprachkurs nicht aus. Mehr aber gibt das Zuwanderungsgesetz nicht her.
Heftig kritisierte die Integrationsbeauftragte die weiter anhaltende Praxis der Kettenduldungen, die durch das Zuwanderungsgesetz eigentlich beseitigt werden sollten. In Deutschland lebten etwa 200.000 Geduldete, fast die Hälfte schon seit mehr als zehn Jahren. Statt ihre Situation zu verbessern, legten die Bundesländer die offene Formulierung im Gesetzestext restriktiv aus. Absicht aber sei es gewesen, dass Familien, die nach zwei Jahren Aufenthalt nicht abgeschoben werden können, einen besseren Aufenthaltstitel bekommen. Stattdessen würden nach zwölf Jahren noch Abschiebeversuche unternommen. „Das“, so Marieluise Beck, „ist ein politischer Skandal.“
SABINE AM ORDE