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Archiv-Artikel

Big in Beton

Fünfzig Jahre Hansaviertel Berlin: Fluch und Flair eines architektonischen Großversuchs

Editorial

Zugeben, zuerst waren wir skeptisch. „50 Jahre Hansaviertel“ hieß unsere Aufgabe für diese taz-Beilage, die in einer Kooperation der Wüstenrot Stiftung, der Universität der Künste Berlin (UdK) und der taz entstanden ist. Und wir, vier Studierende des Masterstudiengangs Kulturjournalismus der UdK, dachten bei alten Hochhäusern und Betonbauten erst einmal an ödes Leben in anonymen, noch öderen Vorstädten. Nach Exkursionen, Vorträgen, Ortsterminen und Gesprächen sehen wir viele Dinge anders. Das Wohnviertel, das zur Internationalen Bauausstellung 1957 am Berliner Tiergarten entstand, ist ein lebendiges Denkmal seiner Zeit: Zeuge von Fortschrittsdenken und Kaltem Krieg, Architektur gewordener Glaube, dass sich eine Gesellschaft durch Gebäude formen lässt. Punkthochhäuser, Pilotis und eine legendäre Parfümerie – wir können jetzt mitreden. Doch vor allem haben wir Menschen kennen gelernt, die gern hier wohnen: Ältere, die mit dem Hansaviertel gute Erinnerungen verbinden, und Jüngere, die der oft totgesagten Moderne viele Vorzüge abgewinnen. – Würden auch Sie gern so wohnen? Lesen Sie selbst.

Vom Bahnhof Zoo braucht die U-Bahn nur wenige Minuten ins Hansaviertel im Berliner Stadtteil Tiergarten. Obwohl im Hintergrund die Siegessäule in den Himmel ragt, Brandenburger Tor und Kanzleramt nicht weit entfernt sind, ist hier nur wenig Hauptstadt zu spüren. Breite Straßen, grüne Wiesen, viele Bäume und Büsche zwischen kastenförmigen Gebäuden: Das Hansaviertel wirkt wie ein Wald, in den eine Packung Bauklötze gefallen ist. Diese „durchgrünte und aufgelockerte Stadt“, so das Vokabular der Stadtplaner, war das Prestigeprojekt der westdeutschen Nachkriegsarchitektur – und feiert dieses Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag.

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Gebäude kaum von den Neubaublöcken, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg überall in der Bundesrepublik hochgezogen wurden. Sie sind aus Beton, mit Flachdach, haben helle Fassaden, lange Fensterreihen, farblich abgesetzte Balkone – aus heutiger Sicht eher unspektakulär. Erst beim Heran- und Hereintreten offenbaren sich die Besonderheiten, die stilistischen Differenzen.

Die 36 Häuser des Hansaviertels entstanden zur „Internationalen Bauausstellung“ (Interbau) 1957. Bereits 1953 hatte der Westberliner Senat zu einem städtebaulichen Wettbewerb zum Wiederaufbau des Geländes aufgerufen – der Siegerentwurf von Gerhard Jobst und Willy Kreuer wurde Grundlage der Bebauungspläne, die vier Jahre später, nach etlichen Veränderungen, endlich umgesetzt werden konnten. An dem ehrgeizigen Projekt beteiligten sich 49 geladene Architekten aus dem In- und Ausland, darunter Berühmtheiten wie Walter Gropius, Alvar Aalto und Egon Eiermann. Über eine Million Besucher bestaunten die teils noch im Bau befindlichen Häuser, vom Boden oder aus der eigens errichteten Seilbahn. Möblierte Musterwohnungen informierten über Einrichtungstrends, eine Ausstellungssektion zeigte Entwürfe für das Leben in der „Stadt von morgen“, aufwändige Gärten luden zum Flanieren ein. Die Interbau war eine Revolution der deutschen Wohnwelt, eine klare Absage an die Mietskasernen des Kaiserreichs, die nationalsozialistische „Musterstadt“ und die Neubauten der jungen DDR. Das zerstörte Westberlin wollte der Welt zeigen: Es geht voran. Die Begeisterung war groß. Die Ausstellungen, Diskussionen und Vorträge zum 50-jährigen Jubiläum 2007 aber haben erneut deutlich gemacht: Das Hansaviertel sorgt auch für Kontroversen.

1964 führte Wolf Jobst Siedler, damals Verlagsleiter bei Propyläen, das Hansaviertel neben anderen Neubaugebieten wie Bremens Neue Vahr als Beispiel seelenlosen Wohnens an. „Die Stadt, in der man wohnte, spazierenging, arbeitete und auf deren Plätzen man die Geschicke des Gemeinwesens beriet, wurde durch das gesunde, anonyme, gesichtslose Wohngebiet ersetzt, in dem es keine Bürger und keine Nachbarn mehr gibt“, schrieb er in dem Buch „Die gemordete Stadt“. Hans Stimmann, ehemaliger Bausenatsdirektor von Berlin, klagte im April 2007 in einem Artikel der „Welt“ über den rücksichtlosen Umgang mit dem „alten“ Hansaviertel. Das prächtige Gründerzeitviertel war während des Krieges weitgehend zerstört worden, die wenigen erhaltenen Häuser wurden abgerissen –um Platz zu schaffen für die Interbau. Auch bei einer Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen im September 2007 fielen kritische Äußerungen – unter anderem von dem Interbau-Architekten Hans Christian Müller. Das Hansaviertel sei eine „halbe Sache“, Ausdruck einer „furchtbaren Zeileritis“, eine „städtebauliche Katastrophe“. Man war sich einig: Das Projekt sei purer Luxus gewesen. Der Architekturkritiker Bruno Flierl sagte: „Die Interbau war eine exquisite Ausstellung, mehr nicht.“

Kein Vergleich zu dem Enthusiasmus, mit dem einst der Bau des Viertels betrieben wurde: Die Interbau, schrieb Bundeskanzler Konrad Adenauer 1957 im Ausstellungskatalog, sei eine „internationale Schau über den Aufbauwillen und über die bisher erreichten Leistungen auf dem Gebiet des Wohnungsbaues und des Wiederaufbaues unserer Städte“. Sechs Jahre zuvor hatte in Ostberlin die Arbeit an den Prachtbauten der Stalinallee begonnen – „Arbeiterpaläste“, mit denen die DDR ihre Überlegenheit demonstrieren wollte. Das Hansaviertel war der heitere Gegenentwurf der jungen Bundesrepublik, mit ebenso klarem politischen Impetus, ein Zeichen seiner Zeit. 1995 wurde es komplett unter Denkmalschutz gestellt.

Stoff für neue Diskussionen, denn die Nachkriegsmoderne stellt die Denkmalpflege vor neue Fragen. Die Gebäude wurden schnell und leicht gebaut, ihre Architekten hatten keinen Anspruch auf Zeitlosigkeit, auf dauerhaften Bestand ihrer Werke. Fassaden, Fenster, Beton – viele Materialien zeigen mittlerweile Verschleißerscheinungen. Wie saniert man solche Häuser? Geht es um die bloße Reparatur von Schäden oder um eine möglichst vollständige Konservierung des Originalzustands? Dürfen Alterserscheinungen erkennbar sein? Wie geht man mit Eingriffen der Bewohner um? „Es ist und bleibt ein Gerücht, dass mit der Eintragung ins Denkmalbuch eine Käseglocke über die zu schützenden Bauten gestülpt würde, die jedwede Veränderung verhindere“, schreibt Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin für Denkmalpflege, in einer aktuellen Publikation des Landesdenkmalamtes Berlin. In ihren Vorträgen plädiert sie für einen „Verzicht auf Neuwert“: Den Gebäuden im Hansaviertel dürfe man ihr Alter und ihre Geschichte ruhig ansehen, schließlich handele es sich um Zeitgeschichte – „Unikate mit hohem historischen Wert“. Hinzu kommt: Das Hansaviertel ist kein Museum, sondern in erster Linie immer noch Wohnquartier.

Seit 1957 haben die Bewohner und Hausherren des Hansaviertels vieles verändert. Am deutlichsten zeigen das die Grünanlagen: Nachträglich gepflanzte Bäume versperren ursprünglich vorgesehene Sichtachsen, Büsche überwuchern Freiflächen. Auch andere Interbau-Ideen haben sich nicht durchsetzen können: Auf der Gemeinschaftsetage im Haus von Oscar Niemeyer beispielsweise wird nicht, wie von dem brasilianischen Architekten vorgesehen, gemeinsam gefeiert – stattdessen parkt hier nur ein einsamer Kinderwagen.

Ein Lehrstück sozialen und bezahlbaren Wohnens ist das Hansaviertel heute sicherlich nicht mehr. Aus vielen Miet- sind Eigentumswohnungen geworden. Knapp ein Drittel der rund 1.700 Bewohner ist älter als 65 Jahre, es gibt nur wenige Kinder. Trotzdem fühlen sich hier noch immer viele Menschen wohl. Menschen, die in hohen Altbauwohnungen über kalte Füße klagen und lieber auf Baumwipfel schauen als auf Leuchtreklamen. Für sie ist das Hansaviertel vor allem eines: ihr Zuhause. Von Eva-Maria Träger