"Bierzelt oder Blog": Überfällige Ernüchterung
In seinem Buch "Bierzelt oder Blog?" untersucht der Medienwissenschaftler Andreas Elter den Einfluss der Social Media auf den Bundestagswahlkampf.
![](https://taz.de/picture/312154/14/Bild_2_39.png)
Ein neues Gerücht geht um die Welt und belebt den medialen Betrieb. Demnach haben in den USA Twitter, Blogs und andere interaktive Netzplattformen und Netzwerke für Obama die Wahlen gewonnen, und im Iran wurde eine "grüne Revolution" durch eine massenhafte Nutzung ähnlicher Medien fast Wirklichkeit. Aber selbst für die USA gilt, dass "die klassischen Medien Obama mindestens ebenso den Weg nach Washington ebneten wie seine Unterstützer im Netz", so der Medienwissenschaftler Andreas Elter.
Was den Iran betrifft, so ist die Informationslage ziemlich diffus. Andreas Elter hat jetzt eine empirisch gestützte Studie vorgelegt, in der er den Gebrauch der interaktiven Social Media (Facebook, Youtube, StudiVZ, Twitter u. a.) durch die Parteien im Bundestagswahlkampf untersuchte. Die Ergebnisse sind ziemlich ernüchternd. Zwei demografische Daten illustrieren das Dilemma der deutschen Wahlkämpfer. Rund 30 Prozent der Wahlberechtigten gehören zur Internetgeneration, darunter viele Erstwähler. Andererseits sind 70 Prozent der Wahlberechtigten älter als 40.
Weil es keine direkten Korrelationen von Alter, Internetnutzung und Parteipräferenz gibt, ist die Frage ungeklärt, wer eher per Internet erreichbar ist als durch klassische Medien. Klar ist nur, dass Internetnutzer eher männlich, jung, urban und gut ausgebildet sind.
Twitter spielte bei allen Parteien eine untergeordnete Rolle und fiel den geübten Usern dadurch auf, dass die Mitteilungen aus den Parteizentralen nicht in der ersten, sondern in der dritten Person formuliert wurden. Das "Ich" ist jedoch so etwas wie die Notration jedes Tweets (Eintrag bei Twitter) wie der Rettungsring beim Boot - unabhängig davon, ob jemand etwas zu sagen hat oder nicht, das Ich gehört dazu.
Diesen Text und viele andere mehr lesen Sie in der vom 8./9. Mai 2010 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Was die Inhalte betrifft, so stand bei allen Parteien nicht etwa die Vermittlung von politischen Inhalten und Zielen im Vordergrund, sondern das persönliche Profil von Kandidaten sowie die Aufrufe für Spenden und für die Wahlbeteiligung. Kein Kandidat wollte "in einen echten interaktiven Dialog mit den Nutzern treten".
Die Antworten kamen von anonymen Wahlkampfteams und Parteimitarbeitern, die nur selten ihren vollen Namen nannten. Informationsblöcke, Interviews, Videos und Podcasts boten den Nutzern wahlkampfrelevante Inhalte, aber kaum Diskursmöglichkeiten. Parteiübergreifend waren User erwünscht als potenzielle Spender oder potenzielle Parteimitglieder, aber nicht als an Politik interessierte Bürger und schon gar nicht als Gleichberechtigte.
Das tägliche Twitter-Angebot mit Mitteilungen von 140 Zeichen betrug bei der CDU 5, bei der SPD 9,25, bei der Linkspartei 7,75 und bei den Grünen 30, die als einzige Partei "kurz vor der Wahl sehr stark auf persönlichen Kontakt" setzten wie Obama in seinem Wahlkampf. Allerdings glichen diese "persönlichen Kontakte" eher "Einbahnstraßen, denn "ein echter Diskurs" kam "dadurch nicht zustande", wie Elter feststellt. Die Kommentare der Twitter-User wiederum waren obligat kurz, selten witzig, intellektuell oft von überschaubarer Aussagekraft und vor allem einseitig.
Elters Fazit: 1. Eine Politik 2.0 gab es weder in den USA noch hier. 2. Die Social Media mobilisierten die eigene Klientel. 3. Die Inhalte kamen über ödes Politikmarketing im Stil von Plakatwänden nicht hinaus. Für alle Netzenthusiasten in den Parteizentralen und für die Anhänger der Piratenpartei bringt das Buch eine überfällige Ernüchterung, für den Rest gediegene Aufklärung über ein Gerücht.
Andreas Elter: "Bierzelt oder Blog? Politik im digitalen Zeitalter". Hamburger Edition 2010, 139 S., 12 Euro
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