Bibliotheken: Einsam glücklich
Ziellos im Internet herumzusurfen nahm in Bibliotheken seinen Anfang. Aber vom Weg abkommen muss ja nicht unbedingt schlecht sein.
Jeden Morgen hatte er eine Verabredung mit der obersten Stufe der großen Treppe, die hinauf zum Lesesaal führte. München, Bayerische Staatsbibliothek, Ludwigstraße, von vielen verniedlichend und ungeachtet ihrer Größe und Bedeutung „Stabi“ genannt. Aber vielleicht muss das so sein; was so riesig ist, muss verkleinert werden, damit es nicht einschüchtert.
Um neun wollte er die Treppe bezwungen haben. Die oberste Stufe die Stechuhr, wenig später zum Fach mit den reservierten Büchern, dann in den Lesesaal.
Der, der immer da saß, war längst da. Bücher um sich arrangiert, in denen er nie blätterte. Er schrieb Zahlen in Sechserblöcken. Es sah so aus, als arbeite er an der Weltformel.
Er tat es ihm gleich, richtete sich ein für einen Arbeitstag, sortierte die Bücher um sich herum. Voller Hoffnung, voller Entschlossenheit. Aber kaum saß er, schweifte er ab. Und wo kann man das – konnte man es lange vor dem Internet – besser als in einer Bibliothek?
Bibliotheken eröffnen und verbergen Universen. Da sind die Bücher, die man gerade braucht, fünf, acht, zehn, siebzehn, vielleicht noch viel mehr, ein Stapel ist es meistens. Er hat sie auf seinem Tisch stehen. Und da sind die vielen, die er nicht braucht, die ein Schattendasein fristen, von denen er nicht weiß, obwohl sie hilfreich sein könnten. Oder die, die nichts mit dem zu tun haben, woran er gerade arbeitet. Das sind die verlockendsten.
Stöbernd, suchend
Längst hat er seinen Platz verlassen, hat sich in die Regalreihen zurückgezogen, stöbernd, suchend. Er ist vom Weg abgekommen. Aber das muss ja nicht schlecht sein.
Das, was man heute – abschätzig, weil es im Verdacht eines nie wieder gut zu machenden Zeitverlustes steht – Surfen nennt, nahm in Bibliotheken seinen Anfang. Dort, wo Bücher frei zugänglich herumstehen, in Leinen gebunden oder in Klebefolie eingeschlagen. Denen fehlt zwar die mystische Kraft, wie sie in Schweinsleder gebundene Folianten der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar ausstrahlen. Dafür aber sind sie greifbar, durchblätterbar, lesbar. Nehmen einen mit in ferne Welten. Machen einsam glücklich.
Er schweift umher mit den Augen, hinter ihm strömen die Juristen in den Saal, für sie ist der lange Gang entlang der Tischreihen Laufsteg, Flirtbörse, ihre roten Gesetzessammlungen legen sie ab, als würde das schon reichen, um zu lernen.
Weit weg ist das. Er taucht ab, sieht da ein Themengebiet, über das er immer schon – oder gerade jetzt – nachdenken wollte, dort einen Buchrücken, der lockt, er bleibt stehen, verliert die Regalreihe „Sozialstrukturanalyse Deutschland“ – sein eigentliches Thema – aus dem Blick, wird angezogen von „Buchmalerei im Mittelalter“ – und ist verloren.
Zugang zu einer anderen Welt
Der Gong. Er möchte sich einsperren lassen, weil er ahnt, dass er am nächsten Morgen keinen Zugang mehr findet zu dieser Welt. Aber vielleicht findet er dann eine andere. Sicher findet er die.
Kathedralen des Wissens; ihre Besucher sind Pilger, Gläubige, Hoffende, Sehnende, so falsch ist das Bild nicht. Forscherinnen, Wissenschaftler dürsten nach Erkenntnis und werden genährt – zumindest kommen sie mit der Hoffnung darauf und wenden sich nicht enttäuscht ab, wenn sie nicht erfüllt wird.
sonntaz
Anlässlich der Frankfurter Buchmesse geht es in der sonntaz vom 6./7. Oktober ausschließlich ums Lesen. Diesen und viele andere spannende Texte zum Thema gibt es am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
Besucher, die in Reisegruppen kommen und frühmorgens vor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, in Weimar und überall dort, wo sich wurmstichige, dumpf riechende Schätze aneinanderreihen, aus Omnibussen steigen, suchen Erhabenheit, und die Nähe zu Geistesgrößen, ihren Worten und Werken, mag für sie eine Art Hochamt sein.
Ein Kosmos mit weit entfernten Polen. Voller kostbarer Werke, verschlossen, nur mit Handschuhen anzufassen, zu betrachten in schummrigem Licht. Unten, im Lesesaal, der Mann mit den Zahlenblöcken, die Juristen im Flirtmodus, der Abgetauchte.
Der letzte Gong. Er legt seine Bücher zurück. Morgen wird er wieder da sein. Um neun auf der obersten Stufe. Voller Entschlossenheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene