: Betriebssystem Kunst
Der Kurator Thomas Wulffen analysiert in seinen Essays die Regeln des Kunstbetriebs als erschreckend stabil
Wer sich gar bei zeitgenössischer Kunst über mangelnde gesellschaftspolitische Bedeutung teuer dröhnender Videoaufbauten, drolliger Installationen oder neunmalklug nichts sagender Kommentare von Kuratoren ärgert, steht schon am Rande einer Erkenntnis: nämlich der, dass man dem Betriebssystem Kunst nicht entkommen kann. „Wie schon beobachtet, hat die Quantenphysik sowohl den Beobachter als auch das Beobachtete aufgelöst, in dem sie sie in eine gegenseitige Abhängigkeit gebracht hat“, schreibt der 1954 geborene Künstler, Kritiker und Kurator Thomas Wulffen. Auch wenn man sich bloß zu ärgern meint – man kann der Wechselwirkung mit dem betrachteten Objekt nicht entrinnen.
Unter dem Titel „Rollenwechsel“ sind Wulffens kritische und kuratorische Texte zur Kunst aus den letzten zwanzig Jahren jetzt in einem Sammelband erschienen. In manchmal etwas hölzern wirkender Apodiktik hat Wulffen, der Philosophie und Sprachwissenschaft in Konstanz studierte, hier alles aufgeboten, um Erkenntnisse aus Kybernetik, Quantenphysik und Systemtheorie auf die Kritik einer Kunst zu übertragen, die begonnen habe, „sich im eigenen Bermudadreieck von Dienstleistung, Entertainment und Erkenntnistheorie“ aufzulösen oder sich nur noch als „Anhängsel der Tourismusindustrie“ zu verstehen. In einer spätkapitalistischen Gesellschaft beschränke sich Kunst darauf, „den Verwertungskreislauf der Objekte in spezifischen Bereichen aufrecht zu erhalten oder ihm neues Futter zu geben“.
Wulffen stellt Fragen nach den unsichtbaren Regeln, die in einem unübersichtlichen Kunstbetrieb immer am Werk sind. Dem kulturell-ökonomischen Komplex durch Kunst entkommen zu wollen, hält er dabei allerdings für eine romantische Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert, als der Künstler sich noch als Außenseiter begreifen konnte. Denn das System saugt Regelverstöße einfach auf: „Jede Form, das System zu destabilisieren, wird aufgenommen, um im System das System wieder zu stabilisieren.“
Immerhin gibt es einen Trost: Die unsichtbaren Regeln lassen sich durch einen Rollenwechsel wenigstens sichtbar machen. „Wer diese Gesetze zum Ausdruck bringen will, muss deren Grenzen überschreiten wollen“, beschreibt Wulffens seine Erfahrungen bei der Erarbeitung eines Ausstellungskonzeptes namens „Fremdkörper“. Dabei sollten sechs Arbeiten von sechs Künstlern im Austausch zwischen sechs Kunstvereinen über einen Zeitraum von sechs Monaten im laufenden Ausstellungsbetrieb als Fremdkörper gezeigt werden. Doch alles blieb Theorie: „Anfragen bei verschiedenen Kunstvereinen wurden entweder von vornherein mit einer Absage beantwortet, nicht verstanden oder auf die lange Bank verschoben.“ Das System hält eben etwas auf seine Regeln.
JAN-HENDRIK WULF
Thomas Wulffen stellt sein neues Buch heute in der Akademie der Künste vor. Hanseatenweg 10, 19.30 Uhr