: Betretene Mienen im Dorf der Kegler
Neunzig Menschen leben in Seedorf, aber der Kegelverein hat über hundert Mitglieder. Einst räumte der Prignitz-Klub die DDR ab, doch nun droht der Abstieg – dem ganzen Dorf ■ Von Stefan Pannen
„Linksaufsatz! Nicht so rund!“ – DENGDENGDENG WOMM! – „Länger spielen...“ DENGDENG „...die verhungert ja!“ WOMM! „Ich hab' heute einfach kein Gefühl zur Bahn!“ OIP DENGDENGDENGDENG WOMM! „Ja, siehst du, geht doch!“ Es ist Donnerstagabend in Seedorf, einem kleinen Dorf in der Prignitz, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Auf der Kegelbahn hinter der Dorfkneipe fallen die Hölzer, wie es in der Fachsprache heißt. Doch es sind keine dickbäuchigen Gelegenheitskegler, die hier eine ruhige Kugel schieben, sondern die erste Männermannschaft des SV Löcknitzstrand – und die spielt in der Bundesliga, wenn auch nur in der zweiten.
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Neunzig Menschen leben in Seedorf, aber der Kegelverein hat über hundert Mitglieder – auch die Bewohner der umliegenden Ortschaften kommen zum Kegeln hierher. Zu DDR-Zeiten, als der Verein noch Traktor Seedorf hieß, räumten seine Spieler bei den Meisterschaften der Republik ab, was zu holen war. Als die deutschen Kegler sich vereinigten, wurde die Mannschaft in die zweite Liga zurückgestuft. Das mochte man noch hinnehmen.
Aber jetzt droht der Abstieg in die Landesliga – undenkbar für das ganze Dorf. Im Sommer ist ein Leistungsträger, „der Sportfreund Köhn“, abgewandert zum Hennigsdorfer Sportverein. Heinz Reimann ist seit über dreißig Jahren Stammspieler in der ersten Garnitur und weiß warum: „Weil die aufgestiegen sind in die erste Bundesliga“, Und sein Mannschaftskamerad Kurt Wilke fügt halb resigniert hinzu: „Wir haben derzeit eben keine sechs gleich guten Spieler.“
Sechs Spieler plus Ersatzmann, daraus besteht ein Team beim Kegeln. Wilke ist seit Jahren die Nummer eins bei den Seedorfern, amtierender brandenburgischer Landesmeister und Vereinsvorsitzender. In diesem Jahr wird er 50. Er sagt: „Erst mit 40 Jahren wird man ein richtig guter Kegler.“
Während Wilke seine Kugeln schiebt – WOMM –, wird er beäugt von seinem Vater, Kurt Wilke sen., und Ferdinand Wilke. „1948 standen in der ersten Mannschaft Wilke K., Wilke F. und Wilke H.“, sagt der Senior, „und das ist 1998 wieder so“. Kurt, Frank und Harry Wilke führen die Tradition der Seedorfer Keglerdynastie fort. Noch während das Training läuft, verziehen sich Ferdinand und Kurt sen. in den Schankraum, die Skatkarten werden hervorgeholt und Geschichten – die alten Geschichten. Natürlich kennt jeder hier die Geschichten in- und auswendig. Aber sie gehören dazu wie das dumpfe Rollen der Kugeln – DENGDENG DENG –, das bis in die Schankstube dringt.
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Es gibt keinen Fußball in Seedorf, keinen Basketball, nur Kegeln. Die Geschicke des Ortes werden bestimmt von Kegelverein, Dorfverein, Gemeinderat – in dieser Reihenfolge. 12.000 Mark beträgt der Jahresetat des SV Löcknitzstrand, die Gemeinde unterhält die Kegelbahn. „Und was ist, wenn die Gemeindegebietsreform kommt und die Gemeinde mal nicht mehr Eigner dieser Anlage ist?“ Betretene Gesichter auf der Vorstandssitzung. „Dann fragt man nach der Existenzberechtigung dieses Vereins.“ Verlegenes Lecken an Joghurtlöffeln, der Hauptsponsor des Vereins, eine Molkerei aus dem Mecklenburgischen, hat ihre Produkte aufgefahren. „Wir brauchen auf jeden Fall Nachwuchs“, rafft Kurt Wilke sich auf. „Wenn sie auf der Straße sind, fangen sie an zu rauchen, klauen, brechen Autos auf.“ Dabei gibt es in Seedorf noch nicht einmal einen Zigarettenautomaten.
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Während ihr Mann mit dem Vorstand tagt, sitzt Elke Wilke allein zu Haus – wie so oft. Sie ist eine der wenigen in Seedorf, die nicht kegelt. Nein, nie im Leben käme sie auf den Gedanken, ihren Mann vom Kegeln abbringen zu wollen, „dann wüßte ich ja gar nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Und das ist ja eigentlich auch 'ne tolle Mannschaft, vor allem sind das ganz schön hübsche, knackige Jungs.“
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Asphalt, Schere, Bohle, das sind die drei Disziplinen im Kegeln. Im Süddeutschen sitzen die Asphaltkegler, in Westdeutschland wird Schere geschoben und im Nordosten – also auch in Seedorf – spielt man auf der langgestreckten Bohlenbahn. Auf den 34 Bahnen des Kegelcenters am Anhalter Bahnhof ist für jede Spielrichtung etwas dabei. Hier müssen die Seedorfer am Tag nach dem Spiel in Brandenburg antreten – beim Spitzenreiter Rot-Weiß Berlin. Schon nach wenigen Minuten ist klar: Heute ist nichts zu holen. Nichts mit WOMM! Der Kampf gegen den Abstieg geht weiter.
Ein Auswärtswochenende, vierzehn Tage Pause, zwei Heimspiele – so ist der Rhythmus in der zweiten Bundesliga Nordost. Um die 500 Kugeln wirft ein Kegler an einem Wochenende, legt beim Anlauf rund 3.000 Meter in gebückter Haltung und mit Ballast zurück. Kein Wunder, daß die meisten Bundesligaspieler es am Montag morgen bei der Arbeit etwas langsamer angehen lassen.
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Harry Wilke kann sich das nicht leisten, und das ist sein Problem. Er arbeitet als Melker in der örtlichen Agrar GmbH. Sein Großvater war der Gründer des Kegelvereins, er selbst hatte fünf Jahre lang nicht mehr gekegelt, bevor er sich überreden ließ, wieder einzusteigen. Inzwischen bereut er es manchmal. „Ich trainiere und trainiere, und es wird einfach nicht besser.“ Der Tagesrhythmus eines Melkers verträgt sich nicht unbedingt mit dem eines Kegelbruders. Morgens um halb vier muß Harry zum ersten Mal an die Euter, wenn es da nach dem Training oder an Spielwochenenden spät wird, ist er am nächsten Tag erledigt. Darum ist er am zweiten Spieltag meistens nur Ersatzmann.
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Von anderer Natur sind die Probleme, die Erich Freitag hat, Sohn des Dorfkneipers. Auf der hauseigenen Kegelbahn schiebt er während der Wintermonate, in denen es für ihn auf dem Bau keine Arbeit gibt, mutterseelenallein Sonderschichten. Dabei gelingen ihm ein ums andere Mal Traumergebnisse. Doch am Wochenende, beim Wettkampf, bekommt er das große Flattern. „Die Psyche, der Kopf, wie man sagt beim Kegeln.“ Um mental und körperlich fit zu werden, joggt er wöchentlich seine 20 Kilometer, begleitet vom Spott der Dorfbewohner. Einfach so durch die Gegend zu rennen, das war bislang in Seedorf nicht üblich. Freitag erträgt und schweigt – und wird dafür 14 Tage später belohnt. In beiden Heimspielen ist er unter den ersten dreien. Und außerdem ist er derjenige, der mit Abstand die schönsten Pirouetten dreht.
Auch wenn sie es selbst nicht so formulieren würden: Der Moment, für den ein Kegler lebt, das sind die Sekunden nach dem Abwurf. OIP DENGDENG: Da starren sie der Kugel hinterher DENGDENG, ein jeder versucht, noch im nachhinein ihren Weg zu beinflussen, die Augen saugen sich an der Laufbahn fest, Arme fliegen in spastischen Zuckungen an die Seite, Hände drehen sich, als seien gewaltige Schrauben zu drehen, der eine springt auf, der andere geht in die Hocke, DENGDENGDENG, bis sich die Spannung entlädt in einem einzigen großen WOMM.
Wobei der Kegler an sich ein eher unzufriedener Mensch ist. Spätestens bei der fünften „sieben“ hintereinander hebt ein geradezu alttestamentarisches Hadern mit dem Schicksal an. Wenn dann noch eine sechs kommt, eine fünf gar, dann herrscht Ratlosigkeit auf des Keglers Antlitz. Und der Zeitpunkt ist nicht fern, an dem ein Mitspieler herbeieilt zum Coaching: „Linksaufsatz! Nicht so rund!“ – DENGDENGDENG WOMM! – „Länger spielen...“ DENGDENG „...die verhungert ja!“ WOMM! „Ich hab' heute einfach kein Gefühl zur Bahn!“ OIP DENGDENGDENGDENG WOMM! „Ja, siehst du, geht doch!“
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Ihre beiden Heimspiele haben die Seedorfer übrigens gewonnen. Sie bleiben in der Bundesliga.
Der ORB zeigt heute abend (21 Uhr) eine Fernsehreportage über „Das Dorf der Kegler“.
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