: Betr.: "Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist übriggeblieben", Interview mit Gregor Gysi, taz vom 6.11.93
Glückwunsch, taz! Mit diesem ausführlichen und differenzierten Interview tragt Ihr wieder einmal ein wichtiges Steinchen zur Demokratiediskussion bei – wider alle Politikverdrossenheit. Neben aufgeschlossenen Liberalen, aufrechten Sozialdemokraten und gar nicht mehr so aufrührerischen Bündnisgrünen, die selbiges seit mindestens anderthalb Jahren an vielen verstreuten Orten, zaghaft zuweilen, versuchen, setzt also auch der demokratische Sozialist Gysi irgendwie auf Aufklärung, erfahre ich. Aller Resignation zum Trotz, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir mittlerweile doch (wieder?) wenigstens die Knospen einer intellektuellen Aufbruchstimmung wahrnehmen könnten – so wir nur den Mut dazu hätten.
Allein, der fehlt auch Herrn Gysi, der sich in respektvoller Erinnerung an die (Auf-)Brüche des Jahres '68 – so schön wird es nie mehr werden! – just in diesem Zusammenhang der konsequenten und sachlichen Fortführung seiner Analysen entzieht: Erstens ist über die schlichte Feststellung hinaus zu fragen, was denn die Angepaßtheit und die Resignation der „68er“ alles be- und verhindert; und zweitens ist auch die sogenannte (?) „Kick-Konzeption“ der ausgehenden 60er Jahre zu hinterfragen – vor allem, wenn „gesellschaftliche Strukturen genau geprüft“ werden sollen, hier und dort und überall, bevor zukunftsorientierte Politik konzipiert wird.
Abgesehen davon: Solange wir uns mit der Suche nach allen gesellschaftstheoretisch und -analytisch denkbaren Stolpersteinen für kreative Reformen aufhalten, läuft die Diskussion Gefahr, eine Metadiskussion zu werden, die den Anschluß an den durch Bischofferode und die westdeutschen Kohlereviere symbolisierten Aufbruch verpaßt.
Aber wie Gregor Gysi richtig feststellt: „Jetzt sind wir selbst gefragt, theoretisch, gedanklich und emotional.“ Dafür dürfen wir uns Zeit nehmen; und wir dürfen uns auch zugestehen, daß wir schon mittendrin sind, den „gedanklichen Vorlauf“ zu erarbeiten; dann geht nicht soviel Energie verloren für das Lamentieren über die verlorene Zeit! Werner Schottenloher,
Regensburg
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