Betr.: Umfrage

Heidrun Ulrich, 50 Jahre, Rechtsanwaltsangestellte: Ich arbeite hier am Alex. Am 4. November war ich nicht dabei, weil mein Sohn krank war. Ich habe mir aber alles im Fernsehen angeschaut. Stefan Heym nutzte die Gelegenheit, öffentlich das auszusprechen, was er in seinen Büchern schon versteckt rüber gebracht hatte: Dass man niemanden einsperren kann und auch kein neues Volk suchen kann. Aber es war auch interessant, wer aus seinen Löchern gekrochen kam, wie etwa Markus Wolf, der frühere Geheimdienstchef. Den hatte man ja vorher nie gesehen. Es lief mir kalt den Rücken runter. Ich habe eine absolute Gänsehaut bekommen. Auch bei den Rufen: Wir sind das Volk. Das drückt eine unheimliche Macht aus. Heute nutzen wir unsere Macht nicht mehr. Heute ist alles materiell orientiert. Vor zehn Jahren hat man nach der persönlichen Freiheit geschrien, heute schreit man nach noch mehr Geld.

Werner Ebenhan, 62 Jahre, Beleuchter am Deutschen Theater: Ich war dabei, als der Gedanke für diese Demonstration geboren wurde. Das war im Deutschen Theater. Die Künstler sagten, wir nehmen jetzt die Verfassung beim Wort und klagen unsere Rechte ein. Der 4. November war ein Sonnabend. Das Wetter war schön. Wir wussten nicht, wie die Versammlung ausgeht. Die Genehmigung kam sehr spät. Aber die DDR-Führung hatte begriffen, die Demonstration findet auf jeden Fall statt. Es herrschte eine große Spannung. Bei unserer Demonstrationsvorbereitung hatten wir immer Angst, dass Schabowski sich an die Spitze des Zuges setzen kann. Dass der nicht so tun kann, als hätte er alles angekurbelt. Letztlich wurde Schabowski ausgepfiffen. In der damaligen Zeit hatte der Satz: Wir sind das Volk, die Bedeutung, dass sich das Volk auf sich besinnt. Heute, na ja, da steht es doch: Wir waren das Volk. (lacht). Aber das ist auch verkürzt.

Hartmut Schmidt, 44 Jahre, heute Maler, damals Arbeiter in der Landwirtschaft: Hier auf dem Alex war ganz schön etwas los. Ich wollte noch etwas einkaufen. Im Grunde bin ich zum Gucken gekommen. Ich war kein Rädelsführer. Politik hat mich immer unberührt gelassen. Heute ist das hier für mich nicht mehr mein Alex. Die Gemütlichkeit ist weg. Damals hat man ruhiger gelebt. Aber man hat auch keine Reisefreiheit gehabt. Bei einer Demonstration heutzutage würde es um Arbeitsplätze gehen. Damals war ja die Losung „Wir sind das Volk“. Heute hat jemand vom Volk aber auch nichts mehr zu sagen. Alles wird an den Tischen von Politikern entschieden. Der kleine Mann hat ganz schön zu knappern. Grundsätzlich ist meine Situation gleich geblieben, damals in der DDR und heute in der Bundesrepublik. Man muss sehen, wie man mit dem Hintern an die Wand kommt.

Heidrun Preußer, 50 Jahre alt, Sängerin: Ich gehöre zu den Initiatoren der Demo. Wir wollten demokratische Verhältnisse in der DDR aufbauen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Westen bei uns noch keine Rolle im Kopf gespielt. Wir wollten eine Demo machen, wo gesagt wird, was man empfindet. Erst später kam der Gedanke an die Wiedervereinigung hinzu. Dazu gab es keine Alternative. Wir haben etwas Richtiges bekommen: nämlich ein einig Deutschland. Aber manchmal bin ich erschrocken, dass wir uns so wenig um die tatsächliche Wiedervereinigung kümmern. Wenn das Thema in der großen Politik so hinten runterrutscht, müssen wir, das Volk, das anpacken, privat. In der Spitzenpolitik ist aus der früheren DDR kaum noch jemand. Aber das war vorauszusehen. Wo soll man die Fachleute her haben, die genügend Kompetenz haben und nicht in der SED waren? Das Plakat dort hinter mir? Wir waren das Volk. Nein, das hat bestimmt jemand hingehängt, der nicht das Volk war. Ich glaube, das ist aus dem Westen initiiert.

Rüdiger Holzapfel, 41 Jahre alt, Angestellter bei der Bahn: Die Stimmung war überwältigend, ja beeindruckend. Ich hatte von anderen gehört, dass hier eine Riesendemonstration stattfindet. Ich war vorher nie in Friedenskreisen gewesen. Ich hatte mich mit dem System abgefunden. Mir hat der Fall der Mauer absolut etwas gebracht. Heutzutage hat man zum Beispiel ein gefliestes Bad und eine Zentralheizung. Der Alex ist für mich immer noch genau der selbe wie früher. Ich bin viel in Westberlin. Aber ich freue mich immer, wenn ich nach Ostberlin komme. Hier herrscht eine andere Atmosphäre. Im Wedding und Neukölln ist es mir nicht geheuer. Das sind bestimmt alles liebe Leute da, aber es gibt zu viele Ausländer, Türken und Hundescheiße. Ich meine, die Leute haben mir selten was getan, bis auf die Busfahrten, wenn sich Jugendlichen schön breit machen und sich laut in ihrer Sprache unterhalten. Das sind Sachen, die gefallen mir nicht. Es sollte jeder machen können, was er will, wenn er andere nicht belästigt. Man sollte aber weniger Dreck machen. In der DDR haben wir als Volk keine Macht gehabt, aber heute fühlt man sich auch verschaukelt. Am meisten Vertrauen habe ich seit einigen Jahren zur PDS. Die ist glaubwürdig. Umfrage: Annette
Rollmann, Fotos: Rolf Zöllner