piwik no script img

die stimme der kritikBetr.: Topografische Promiskuität

New York, Rio, Tokio

Bei seiner regelmäßigen Pirsch durch die soziologischen Biotope der Republik hat der Spiegel kürzlich „bourgeoise Bohemiens“ entdeckt und flugs den griffigen Neologismus „Bobos“ geprägt – was im Holländischen passenderweise „Wichtigtuer“ bedeutet. Jugendlich, flexibel und urban seien diese Menschen, behaust im Internet und beheimatet in Clubs, wo Champagner mit Eis aus Wassergläsern getrunken wird. In Berlin also. Oder im lustigen Köln. Oben im weltläufigen Hamburg oder unten im gut geföhnten München. Hauptsache Metropole – und doch schon wieder passé.

Genossen wir früher in provençalischer Abgeschiedenheit, was wir dem Leben in einer deutschen Metropole abgerungen haben, so wohnen wir heute in Berlin und Paris. Leimen und Monaco, das mochte aus steuerlichen Gründen noch einleuchten. Dieser Tage aber wohnt man in München und Florida, changiert also von einem Altersheim ins andere. Und warum inzwischen nicht nur Hinz, sondern natürlich auch Kunz „in Heidelberg und Bangkok“ ansässig sein müssen, ist eines der leichteren Rätsel unserer Zeit.

Bei der Lösung war mir ein befreundeter Visagist behilflich, der bei einem Münchner Friseur ein Handwerk lernte, das er in New York gut brauchen und mit dem er in Los Angeles Karriere machen kann: bekannte Gesichter anmalen. Seitdem schätzt er München ob seiner „Gemütlichkeit“, New York wegen „dem Thrill“ und L.A. wegen der „Chancen“, die sich dem Glücksgeküssten dort bieten. Es ist, unschwer zu erkennen, eine Dreifaltigkeit gelebter Promiskuität, die sich durch die Wahl der Wohnsitze ins Globale extrapoliert: Daheim das bergende Muttchen München, die scharfe, aber anstrengende Affäre mit New York, der geilen Sau, und Los Angeles als Versprechen der ultimativen, makellosen Romanze.

So ist das heute eben mit den Städten: Wer zweimal in derselben pennt, gehört schon zum Establishment. Und wenn auch noch der bourgeoise Bohemien Peter Sloterdijk (Karlsruhe und München und Wien) verkündet, eine Stadt offenbare in ihrer wolkenkratzenden Vertikalen, was sie in der Horizontalen an Macht auszustrahlen gedenkt, dann möchte man ihm schulterklopfend zustimmen. Wem, vielleicht aus finanziellen Gründen, die Erotik der ungehemmten Vielstädterei verwehrt bleibt, der kann sich mit der Bibel trösten: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr. 13, 14). ARNO FRANK

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen