Bestattungskultur: Ein Friedhof wird wieder lebendig

Auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf wird für 100 Tage ein Künstler-Atelier errichtet.

Durch die Baumwipfel fällt die Sonne Bild: AP

Nadelwald, moosbewachsener Boden, Vogelgezwitscher. Durch die Baumwipfel fällt die Sonne. Stundenlang könnte man auf diesem parkähnlichen Gelände in Stahnsdorf im Südwesten Berlins spazieren gehen und abschalten vom Lärm der Großstadt. Man könnte sich auf eine Bank in die Sonne setzten und lesen. Man könnte die Kinder oder Freunde mitnehmen und auf einer der vielen Lichtungen ein Picknick veranstalten. Man könnte. Aber darf man das? Schließlich ist der Südwestkirchhof ein Friedhof.

Wenn es nach Olaf Ihlefeldt geht, darf man das nicht nur, man sollte. "Der Südwestkirchhof ist schon immer ein lebendiger Friedhof gewesen", sagt der Verwalter und Vorsitzende des Fördervereins. Bewusst nutzt er immer wieder das Wort "lebendig", wenn er über den Friedhof spricht. Er will, dass Menschen herkommen und ihn, ja, mit Leben füllen. Zum 100. Geburtstag des Ortes hat er nun fünf bildende Künstler eingeladen, 100 Tage lang eine Lichtung als Sommeratelier zu nutzen.

Mit der Planung des Südwestkirchhofs begann man 1902. Im stetig wachsenden Berlin war kein Platz mehr für die Totenruhe, sodass die Berliner Stadtpfarreien sich entschlossen, eine gemeinsame Begräbnisstätte vor den Toren der Stadt zu betreiben. Noch heute kann man auf verwittertem Granit etwa "Block Schöneberg" entziffern und damit den Ort finden, auf dem die damals noch selbstständige Stadt Schöneberg ihre Toten bestattete. Berlin verschärfte das Tempo und gönnte seinen Toten Ruhe am Stadtrand.

Bald entdeckten die Berliner den Waldfriedhof, der mit seinen Sichtachsen, Blumenarealen und Plätzen als Park konzipiert zum Verweilen einlud, als Ausflugsziel. 1913 erhielt er einen eigenen S-Bahn-Anschluss. 1938 wurden fast 15.000 Tote auf ihn umgebettet, weil Albert Speer auf den ursprünglichen Ruhestätten die Nord-Süd-Achse seines neonazistischen Germanias errichten wollte.

Und dann kam die deutsche Teilung, die den Friedhof im Osten von seinen Gemeinden im Westen abschnitt. Als man sich nach der Wiedervereinigung des Südwestkirchhofs erinnerte, war er ein verfallenes, aber dadurch verwunschenes Areal geworden. Grünspan hatte sich auf die Gräber gelegt und ein dicker Moosboden bedeckte die Wege. Seitdem versucht man, den Friedhof wieder ins Gedächtnis der Berliner zu holen. "Zu beleben", sagt Ihlefeldt.

Einer der fünf Künstler aus der Region, die das nun mit ihrer Arbeit tun sollen, ist der Bildhauer Harald Müller aus Mittenwalde. "Ich muss mich erst an die Idee gewöhnen, auf einem Friedhof zu arbeiten", sagt er. "Eigentlich finde ich die eher nicht so schön." Dennoch stand für ihn außer Frage, bei der Aktion mitzumachen - schließlich sei der Südwestkirchhof ein kultureller Ort und die Arbeit dort eine einmalige Gelegenheit. Eine Idee für sein Kunstwerk, für das es keinerlei Vorgaben gibt, habe er jedoch noch nicht. "Erst muss ich das Gelände begehen und mich noch ein wenig mit dem Thema Tod und Totenkult auseinandersetzen", meint Müller. Auf einer Lichtung liegt für ihn ein Baumstamm bereit, aus dem er bis Anfang September eine neue Skulptur erschaffen darf. "Die Anlage ist landschaftlich und künstlerisch inspirierend", sagt Ihlefeldt.

Auch wegen der großen Namen: Heinrich Zille, Gustav Langenscheidt, Werner von Siemens und Ferdinand von Richthofen liegen hier. Der Sohn und Herausgeber Theodor Fontanes liegt hier begraben sowie der Vater von Walter Gropius. Viele der Grabmäler sind selbst Kunstwerke, wie die auf acht Säulen ruhende Kuppelkonstruktion, die Max Taut für das Grab des Kaufmanns und Kunstmäzens Julius Wissinger entwarf. Die Nachkommen des deutschen Stummfilmregisseurs Friedrich Wilhelm Murnau baten mit Karl Ludwig Manzel einen Bildhauer um die Grabgestaltung, der schon für den Berliner Dom und den Reichstag Statuen geschaffen hatte.

"Natürlich gibt es Kritiker, die meinen, hier werde die Totenruhe gestört", sagt Ihlefeldt. Schließlich rückten die Künstler ihren Bäumen mit Kettensägen, Hobeln und Feilen zu Leibe und das macht Lärm. "Man muss aber bedenken, dass dieser Friedhof bewirtschaftet und hier jeden Tag mit Motorsägen oder Laubbläsern gearbeitet wird." Außerdem sei die Grabesstille auf Friedhöfen eine recht neuzeitliche Entwicklung: "Seit dem Mittelalter waren sie immer lebendig, aber heute nimmt man die Kinder nicht mehr mit." Das wolle er ändern: "Alle beklagen sich, dass die Bestattungskultur verfällt - wir machen was dagegen."

Es ist nicht die erste Aktion dieser Art, mit der Ihlefeldt dem Gelände Leben einzuhauchen versucht, das mit seinen 206 Hektar Fläche zu einem der größten Friedhöfe Europas gehört. Den Anfang machte 2003 eine Lange Nacht, während der Chöre an den Gräbern der zahlreichen Prominenten sangen und am Grab von Murnau seine Stummfilmklassiker gezeigt wurden. "Seitdem ist das ein Selbstläufer geworden", sagt der Verwalter. "Wir haben uns von dem Friedhof mitreißen lassen." Selbstverständlich müsse er darauf achten, ein Gleichgewicht zwischen den Aufgaben des Friedhofs als Kulturgut und Bestattungsort zu gewährleisten. "Wir veranstalten hier keine Events, wir nutzen und betonen nur den kulturellen Hintergrund des Ortes", erklärt Ihlefeldt. Folgerichtig hat er auch eine Lichtung für das Sommeratelier vorgesehen, die weit entfernt liegt von den aktiven Gräberfeldern.

Denn es wird immer noch beerdigt auf dem Südwestkirchhof, oder besser: wieder. "Vor sechs Jahren hatten wir noch 80 Bestattungen pro Jahr. Mittlerweile sind es 900", erzählt er. Eine Tatsache, die man sich beim Besuch des Ortes immer wieder ins Gedächtnis rufen muss: Dies ist ein Friedhof. Zu einfach ist es, zu vergessen, dass hier Tote liegen, wenn man über die unter Bäumen versteckten Grabsteine hinwegsieht und sich auf die blühenden Rhododendren und die wilden Wiesen konzentriert.

Kurz nach der Wende hat Rosemarie Manleitner diesen verwunschenen Ort für sich entdeckt. "Durch Zufall bin ich einmal hier gelandet, und seitdem komme ich immer wieder und habe auch schon viele meiner Freunde mitgebracht und begeistert", erzählt die Spaziergängerin. Man habe seine Ruhe und könne in der Geschichte stöbern. "Natürlich bringt man einen gewissen Respekt mit, wenn man auf einen Friedhof geht", ergänzt Vera Lehmann. Sie ist eine der Bekannten, die durch Manleitner auf den Südwestkirchhof aufmerksam gemacht wurde und seitdem immer wieder herkommt. "Ich kann nicht verstehen, dass andere Menschen Friedhöfe meiden", meint sie. Der Tod gehöre schließlich zum Leben, weshalb sie auch das Kunstprojekt befürworte. "Ich sehe keinen Widerspruch darin, an einem so kulturell geprägten Ort Kunst zu schaffen."

Bis Anfang September kann man die fünf Künstler im Sommeratelier besuchen und ihnen bei der Arbeit zusehen. Sie werkeln auf einer Lichtung zwischen dem Kapellenblock und dem Gräberfeld Nathanael, dort, wo 1937 der Ingenieur Wilhelm Schmidt und 1938 Anna von Baltz beerdigt wurden. Ihre Werke werden auf dem Friedhof bleiben und ein neues Kapitel in seiner kulturellen Geschichte schreiben. "Dieser Ort ist so lebendig", meint Ihlefeldt.

Vera Lehmann, Spaziergängerin

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