Bestandsaufnahme: Die Besten im Nordwesten

104 Arbeiten, verteilt auf fünf Standorte: "Leinen los!" ist die 85. Herbstausstellung des Kunstvereins Hannover überschrieben. Was sich nicht ohne weiteres als programmatisch schlüssig darstellt. Auch sonst fehlt es angesichts der schieren Anzahl des hier Gezeigten gelegentlich an der notwendigen Gewichtung. Zu entdecken aber gibt es dennoch vieles.

Gefühlsselige Sequenzen aus Heimatfilmen der 1950er Jahre montiert: Standbild aus Christoph Girardets Dreikanal-Videoprojektion "Silberwald" (2010). Bild: Kunstverein Hannover

Genügend Zeit sollte man wohl mitbringen: An fünf Standorten präsentieren sich Kunstschaffende aus Bremen und Niedersachsen, macht insgesamt 104 Arbeiten quer durch alle Medien. Noch was für Zahlenfreunde: Der Altersschnitt der Ausstellenden beträgt jugendliche 38 Jahre.

Alle zwei Jahre unternimmt der Kunstverein Hannover mit seiner Herbstausstellung - der inzwischen 85. - eine solche Bestandsaufnahme der nordwestdeutschen Kunstszene. Nicht zuletzt, um Kandidaten für seine Preise und Stipendien aufzuspüren: Aus 331 Bewerbungen vornehmlich junger Kreativer kristallisierte eine Jury 68 künstlerische Positionen heraus. Weil einige der Beteiligten ihre Arbeiten auf je zwei Häuser aufteilen, trifft man beim Rundgang immer wieder auf Bekanntes. Keine schlechte Idee.

Kunstverein Hannover

Hintersinnig beginnt es hier gleich über der Eingangstür zum ersten Saal: ein weißer Leuchtkasten, im Innern bestückt mit einer umlaufenden Reihe Taubenabwehrspikes. Daniel Wolff, Jahrgang 1980, will mit seinem Objekt vermeintliche Notwendigkeiten bloßstellen und Gedanken ins Abseitige eröffnen - der Titel: "Innere Beschissenheit". Hat derlei absurdes Aufbegehren seinen Grund am Ende im administrativen Ordnungswahn der Stadt Braunschweig, wo Wolff lebt und studiert?

Etwas weiter folgt Dieter Froelichs Inventar seiner Künstlerküche "Restauration a.a.O." - Töpfe, akribisch dargebotene Suppenlöffel und Eingemachtes. Der Titel scheint Programm: Wie ein barocker Wanderkoch erweckt Froelich das Ganze zum Leben in zwei Gastmahlen archetypischer Speisen aus "Gemengsel und Gehäcksel", sprich: Klopsen, Knödeln und Pasteten.

Der groteske Höhepunkt im Kunstverein selbst ist wohl die Dreikanal-Videoarbeit "Silberwald" vom diesjährigen Preisträger Christoph Girardet, 1966 geboren und mittlerweile auf internationalen Filmfestivals zu Hause: Gefühlsselige Sequenzen aus Heimatfilmen der 1950er Jahre hat Girardet in ihren Handlungsstereotypen synchron nebeneinander geschnitten. Da wird gleich dreifach gepirscht oder das Gewehr angelegt, und die Liebsten sinken reihenweise in die Arme ihrer Jägersmänner. Die emotionale Lenkung des Betrachters läuft jedoch - weil ja jegliches dramatisch kongruente Geschehen fehlt - ins Leere: Die vertraute Möglichkeit zur interpretierenden Arbeit wird brüsk verwehrt.

Dass in den Kunstvereinssälen zwischen knapp 30 raumgreifenden Installationen und Objekten, großformatigen Bildern und vielen Videos die Altmeister und Lehrer der selbstbewussten Jungen, Christiane Möbus und Timm Ulrichs, geradezu untergehen, ist vielleicht auch deren künstlerischem Verschleiß geschuldet - aber es betrübt dennoch.

Kubus und Lottostiftung

Die städtische Galerie Kubus und die anschließende Galerie vom Zufall und vom Glück der landeseigenen Lottostiftung haben mit unschönen Räumen zu kämpfen, Entdeckungen gibt es aber auch hier zu machen. Im Kubus ist es beispielsweise das "Archiv" von Markus Zimmermann: Kleine Pappschachteln können aus einem Regal genommen und als Guckkästen ins Licht gehalten werden. Sie bergen mysteriöse winzige Raumsituationen, denen man sich als nun einäugiger Betrachter sehr intensiv ausgesetzt fühlt.

Oder die Installation von Christine Schulz und Ingo Rabe. Mit Overhead-Projektoren werden auf simple Pappkartons Bilder von Lichtreflexen und Wasser oder Textstücke aus Dantes "Göttlicher Komödie" geworfen; Sie überlagern sich zu einem begehbaren Raum von gespenstischer Anmutung.

Als einziger Autodidakt der Ausstellung ist hier auch der in Hannover lebende Gambier Bye Mass Jobe zu finden, der ein spielzeughaftes Modell seiner Heimatstadt Banjul gebaut hat: Wellpappe, silbern und rostbraun bemalt, deckt die Dächer einfacher Hütten zwischen Kirchen, Herrschaftshäusern und Palmen in einem unschuldigen Psychogramm zu Kolonialismus und Unterdrückung, Migration und Heimweh.

Behnisch-Bau

Von dem Behnisch-Bau der Nord/LB ist man zwar allerlei architektonische Kapriolen gewohnt, die Eingangssituation zur "art gallery" ist nun noch zusätzlich verstellt mit einer leichten, semitransparent bespannten Raumkonstruktion Klaus Kleines. Hat man sie durchschritten, verfängt sich der Blick in der trompe loeil-Installation von Marina Schulze: Ein perspektivischer Ausschnitt des Raumes ist hyperrealistisch auf eine den Raum verstellende Wand gemalt, eine Fotoserie von Petra Kaltenmorgen und weitere Exponate werden gleich mit erfasst.

Kunstverein Langenhagen

Der schmale lange Hauptraum - eine überformte Kegelbahn - wird ins Unendliche verlängert durch eine Fotoarbeit, die eine Mehrfachspiegelung des Raumes wiedergibt. Lotte Lindner und Till Steinbrenner hatten sich mit diesem Projektvorschlag beworben, erzählt Ursula Schöndeling, die Leiterin des erstmals an der Herbstausstellung beteiligten Vereins im Stadteil Langenhagen. Auch ihr Büro nimmt eine Arbeit auf: eine Collage aus abfotografierten Tapetenresten eines Abbruchhauses mit Stücken echter Tapete von Patricia Lambertus. Schöndeling erweist sich als Kennerin der regionalen Kunstvereins- und Hochschulszene - und die hat abseits dieses Auftritts ganz bös um Wahrnehmung zu kämpfen.

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