Bespaßung auf dem Niveau von schlechtem Kaspertheater: "Das haben die Kinder nicht verdient"
Wolfgang Schneider, Kulturpolitik-Professor an der Universität Hildesheim, hält Weihnachtsmärchen für ein inhaltlich reaktionäres Angebot, das sein Publikum nicht ernst nimmt.
taz: Herr Schneider, wie sieht Ihre Analyse des Weihnachtstheaterangebots für Kinder und Jugendliche anno 2012 aus?
Wolfgang Schneider: Überall schlechte Produktionen, die die Theater nicht wagen würden, für Erwachsene rauszulassen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich Geschäftemacher aus rein kommerziellem Interesse mit reaktionären Theaterangeboten um die Familien gekümmert, indem sie ein systemimmanentes, stark emotionales Erlebnis vermittelten.
Und heute?
Warum denkt man immer noch, heile Welt inszenieren zu müssen und so die Kinder zu beschützen? Warum verfallen heute die bundesweit mit drei Milliarden Steuereuro pro Jahr geförderten Theater noch dem Massengeschmack, zeigen anderthalbstündige Märchen, die man in zehn Minuten gelesen und auch verstanden hat, oder bringen Kinderbücher hölzern auf die Bretter? Dabei werden die Mechanik der Bühne und viele Kostüme vorgeführt, um quasi Hollywood in die dramatischen Künste einzuverleiben.
58, ist Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim und Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ). Seine Recherche zum Weihnachtsmärchen veröffentlichte er in dem Buch "Theater für Kinder und Jugendliche".
Sind Sie wirklich der Ansicht, dass sich nichts geändert hat an der lieblosen Massenabfertigung?
Es geht zwar nicht mehr darum, für Kaiser, Gott und Vaterland zu erziehen, aber an der Didaktik der Ausstattungsorgien hat sich qualitativ nichts geändert. Dass das Weihnachtsmärchen jetzt Familienstück heißt, ist reiner Etikettenschwindel.
Ist das Angebot überflüssig?
Theater lebt ja auch von Nachfrage. Und die kommt halt von den Lehrern, für die der Theaterbesuch ihrer Schüler zur Vorweihnachtszeit zum Lehrplan zu gehören scheint. Hinzu kommt die Nachfrage von Großeltern, Onkeln, Tanten, Paten, die ihren Sprösslingen exakt das verabreichen wollen, was sie in jungen Jahren im Theater erlebt haben.
Was war das?
Das alte Prinzip: moralisierend große Show, billige Spannungsaktionen, Bespaßung, alles auf dem Niveau von schlechtem Kaspertheater. Das haben die Kinder nicht verdient, das finden Jugendliche langweilig.
Mir fallen ganz andere Beispiele ein in Hannover, Hamburg, Bremen, Oldenburg …
Es gibt ja inzwischen an den Stadttheatern ein Kinder- und Jugendangebot das ganze Jahr über, zumeist gemacht von Menschen mit künstlerischem Anspruch. Wenn man denen das Weihnachtsstück überträgt, dann kommt es schon mal vor, dass zeitgenössisches Kinder- und Jugendtheater herauskommt.
Was verstehen Sie darunter?
Theater als Spiegel der Gesellschaft. Es geht darum, Unterhaltung auf einem Niveau zu machen, das nicht Schulstunde, auch nicht Kopie von den üblichen Abenteuergeschichten im 3-D-Kino ist, sondern aktuell wichtige Themen verhandelt, spielerischen Umgang mit Theatermitteln zeigt, Zuschauer ernst nimmt.
Das heißt aber doch auch, ethische Fragen zu diskutieren, moralisch zu stärken?
Ich sehe nur moralische Zeigefinger, fabula docet. Das erinnert mich immer an den Ausspruch meiner Großmutter, quasi die conclusio eines klassischen Weihnachtsmärchens: „Genieße, was dir Gott beschieden, entbehre gern, was du nicht hast, ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat seine Last.“ Das ist Karl August Görner, 1856.
Mit welchem Stück, bei welcher Aufführung wird das denn derzeit vermittelt?
Bei den meisten! Das wird zwar so direkt nicht mehr gesagt, aber indirekt wird schon zur Anpassung, Konformität erzogen. Also wider meine Vorstellung von …
… Theater als moralischer Anstalt?
Das ist die Frage, ob Theater noch Vermittlungsinstanz der Tugenden des Lebens ist. Ich meine: nein. Theater ist nicht Schule mit anderen Mitteln, Theater muss jugendgefährdend sein.
Jugendgefährdend?
Theater hat die Möglichkeit und Chance, anders zu denken als der Mainstream, sich anders zu positionieren, mit dem Fremden sich auseinanderzusetzen, Bilder zu zeigen, die eben nicht in jeder Playstation reproduziert werden. Theater kann Schule des Sehens sein, kann Ohren, natürlich auch Herzen öffnen …
… und Utopien, Ideale anbieten?
Die Utopien der Weihnachtsmärchen, die lebt doch kein Erwachsener, man versucht Kindern daher eine Stellvertreterposition zu geben. Im Prinzip finde ich es ja völlig in Ordnung, Visionen auf die Bühne zu bringen. Aber dann erwarte ich auch Gesellschaftskritik, die Auseinandersetzung mit der Institution Schule, mit der Institution Familie, mit unserer globalisierten Welt wie wir sie jeden Tag in den Nachrichten ertragen müssen. Denn das ist auch die Welt der Kinder, ein Drittel hat geschiedene Eltern, ein weiteres Drittel lebt in ökonomisch prekären Verhältnissen. Warum wird das alles ausgeschaltet, wenn das Licht im Theater fürs Weihnachtsmärchen ausgeht?
Das stimmt doch nicht, beispielsweise in Hannovers Produktionen – „Das doppelte Lottchen“, „Hilfe, die Herdmanns kommen“, „Pünktchen und Anton“ – ist das alles drin.
Es gibt rühmliche Ausnahmen – zumeist aber verdienen sich Theaterintendanten eine goldene Nase, indem sie die 27. Version der Kästner’schen, Lindgren’schen, Grimm’schen Geschichten zeigen, die Tantiemen einstecken und auch noch selbst inszenieren, wenn es nicht der dritte Assistent von links macht.
Ihr Gegenentwurf?
Warum nutzen wir nicht das erhöhte Zuschauerinteresse zu Weihnachten und zeigen das Allerbeste! Nehmen nur die Schauspieler, die richtig Lust auf dieses Publikum haben. Nehmen den allerbesten Autor, der ein großes Stück schreiben soll für die große Bühne, mit der Vorgabe, auch das komplette Orchester und das komplette Tanzensemble zu nutzen und auch noch Puppenspieler zu engagieren! Da könnte man doch ein ganz neues spartenübergreifendes Genre begründen.
Diese Überwältigungsstrategien kritisieren Sie aber doch?
Es geht nicht um Illusionstheater, das kritisiere ich, man muss authentisch bleiben, das Besondere des Theaters herauskehren, den lebendigen Dialog zwischen Schauspielern und Zuschauspielern, wie Brecht sagte: Das Theater muss auf jedem einzelnen Sitz entstehen. Das geht nur mit dieser Kommunikation, da frage ich nicht nach den 27 Kulissen, sondern nach den 27 Musikern, die ich auf der Bühne sehen will.
Das ist eine Kostenfrage. Wenn die Musiker vormittags, mittags und nachmittags für Kinder spielen, können sie abends nicht noch die „Aida“ geben.
Da sollte man die „Aida“ streichen. Nur so hat man vielleicht in der Zukunft noch ein Publikum für „Aida“-Produktionen.
Muss man bei der Erstbegegnung der Kinder mit der Bühnenkunst die Pracht der Theatermittel vorführen?
Das ist doch das falscheste Argument. Kinder sind nicht die Abonnenten von morgen, sondern die Zuschauer von heute. Und da gilt: Entweder wir nehmen sie jetzt ernst oder wir machen Marketing mit ihnen. Die Zuschauerzahlen im Erwachsenentheater gehen ja rapide zurück, im Kinder- und Jugendtheater aber steigen sie stetig.
Ist das nicht Beleg dafür, dass heutzutage schon ganz anders Theater für Kinder gemacht wird als im 19. Jahrhundert?
Das deutsche Weihnachtsmärchen ist nach wie vor ein Schmarren und kommt daher im Feuilleton nicht vor. Aber es ist ein großer Wirtschaftsfaktor für die Theater. Sie geben die Produktionen bis zu 50-mal und spielen so ein Viertel ihrer Einnahmen ein. Ihre Zuschauerzahlen pro Saison bestehen zu mindestens einem Drittel aus denen des Weihnachtsmärchens. Aber das Weihnachtsmärchen darf nicht für Einnahmen und Auslastungszahlen instrumentalisiert werden, es geht um thematische Brisanz, gesellschaftliche Relevanz und künstlerische Substanz.
Wird es sich in diese Richtung entwickeln?
Mit den alten Intendanten: nein. Mit den neuen Kinder- und Jugendtheaterleitern: ja. Dank Klaus Schumacher vom Jungen Schauspielhaus Hamburg, Rebecca Hohmann vom Jungen Theater Bremen und Matthias Grön vom Staatstheater Oldenburg sehe ich eine Perspektive für die Entwicklung eines Theaters für ein junges Publikum in Norddeutschland. Auch zu Weihnachten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind