Besetzungen: Häuserkampf im Trainingsmodus
Die linke Szene ruft zu Besetzungen auf, die Opposition fordert ein Ende der Polizeistrategie, innerhalb von 24 Stunden zu räumen
Ein blaues Transparent hängt über die alte Backsteinmauer vor der Bevernstraße 2: „Besetzt – dolu“ steht auf deutsch und türkisch darauf. Die Polizei ist mit mehreren Einsatzwagen vorgefahren. Drei Beamten sichern den Eingang, ihre Kollegen verschwinden über den offenen Hof in den Seitenflügel. Vier Vermummte haben sie bereits festgenommen. In einer Wohnung sollen sich weitere Leute verbarrikadiert haben.
Linke Aktivisten haben am Sonntagnachmittag das Haus am Spreeufer nahe des Schlesischen Tors besetzt – zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate. Die Bevernstraße 2 ist zum Symbol für die Aufwertung im Kiez geworden. Der Eigentümer will den Seitenflügel sanieren und das fehlende Vorderhaus neu errichten. In einer Mail machen die BesetzerInnen ihren Standpunkt klar: „Für die Renovierung der Wohnungen ohne jede Erhöhung des Mietpreises“, „gegen jegliche Luxusmodernisierung“.
Die Bevernstraße 2 ist kein Einzelfall mehr: Ende April besetzten gut 100 Menschen Wohnungen in der Neuköllner Weisestraße, später auch eine ehemalige Grundschule in der Görlitzer Straße in Kreuzberg. Kein Zufall: Nach Jahren der Abstinenz von Hausbesetzungen heißt die Devise der linken Szene seit Jahresanfang „Leerstand belegen“.
Aneignung als Widerstand
„Mehr und mehr Menschen werden aus dem Innenstadtring verdrängt“, heißt es in einem Aufruf. „Wir wollen dazu beitragen, dass Aneignung von Wohnraum als Widerstand selbstverständlich wird.“ Unter den Protestlern sind auch Autonome, die „breite Massenmilitanz“ propagieren, um Besetzungen „durchzusetzen“.
Noch bleibt es freilich bei kleinen Aktionen. Eine für Mitte April angekündigte „Massenbesetzung“ fiel ganz aus. Auch weil die Polizei strikt ihre „Berliner Linie“ durchsetzt: Besetzungen werden innerhalb von 24 Stunden geräumt.
Die Opposition stellt nun die 1981 eingeführte Strategie in Frage. „Die Linie hat sich überlebt“, findet Franz Schulz (Grüne). Der Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg plädiert dafür, Besetzer wie etwa in Holland zu tolerieren. Die jetzigen Aktionen seien „begrüßenswert, da sie auf den hoch angespannten Wohnungsmarkt und nicht vertretbaren Leerstand“ hinwiesen.
Die Piraten finden die „Linie“ schon rechtlich fraglich, so Oliver Höfinghoff, da „der einzige Grundsatz die Räumung innerhalb eines Tages“ sei. Er lobt „wertvolle Projekte“, die die Besetzerbewegung hervorgebracht habe. „Das Kapital muss ja nicht immer die Lebensformen bestimmen.“
SPD-Innenexperte Tom Schreiber weist die Forderung zurück. „Was unter Rot-Rot funktionierte, kann auch jetzt bleiben.“ Nicht Besetzungen seien die Lösung, sondern „bezahlbarer Wohnraum“. Katrin Lompscher, Stadtentwicklungsexpertin der Linkspartei, gesteht, dass die Linie unter Rot-Rot kein Thema war. „Inzwischen aber hat sich die Wohnraumlage geändert. Die Strategie muss neu bewertet werden.“
Eine neue Besetzerbewegung erkennt Britta Grell, Sozialforscherin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), noch nicht. „Dafür fehlt schlicht der Leerstand.“ Die Aktionen könnten aber steigende Wohnungsnot erfolgreich „skandalisieren“, so Grell. „Es ist doch absurd, dass der Senat sich für Zwischennutzungen starkmacht, aber Besetzer rigoros räumen lässt.“
Die letzte dauerhaft erfolgreiche Besetzung liegt sieben Jahre zurück. 2005 belegten Bewohner des geräumten Projekts Yorckstraße 59 das landeseigene Bethanien – und wurden später legalisiert. Heute dient ihr Haus als „Anlaufstelle“ für die neuerliche Besetzungskampagne.
In der Bevernstraße 2 hat ein Anwohner die Besetzung zuerst bemerkt. „Da waren mehrere Maskierte. Die haben mit einem Vorschlaghammer eine der leerstehenden Wohnungen aufgebrochen“, erzählt er. Er lebt mit Familie hier und ist wenig begeistert von der Aktion. „Meine Frau hat einen Riesenschreck bekommen. Das ist illegal. Das geht zu weit“, schimpft er. Er habe kein Problem mit der Verwaltung.
Um kurz nach 18 Uhr ist es soweit: Zwei Beamten führen eine junge Frau vom Grundstück und setzen sie in einen Mannschaftswagen. Sie leistet keinen Widerstand. „Mieterhöhung, Zwangsumzug, davon haben wir genug“, skandieren Unterstützer. Kurz darauf begleiten Polizisten auch einen ältereren Mann mit Blindenstock zum Wagen. Das Haus ist geräumt.
Die Besetzer hinterlassen laut Polizei das verwüstete Büro der Hausverwaltung. Die sechs Festgenommenen werden sich wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung verantworten müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste