Berlinmusik: Orangen und Zikaden
In jüngster Zeit sind einige vermeintliche Gewissheiten ins Wanken geraten. Nicht nur in der Politik ändert sich das Klima, dort aber am vernehmlichsten. Als Reaktion ziehen sich die einen reflexartig auf Bekanntes zurück, um nicht ihre letzten Sicherheiten zu verlieren. Andere hingegen machen sich in unbekannte Regionen auf, um erst recht Neues zu erkunden. Das Trio Microtub, bestehend aus dem Berliner Tubisten Robin Hayward und seinen Kollegen Martin Taxt und Peder Simonsen etwa hat sich der mikrotonalen Tuba verschrieben, um das Frequenzspektrum jenseits der gängigen Tonleitern auszukundschaften.
„Bite of the Orange“ heißt ihr jüngstes Album, auf dem Microtub in ausgedehnten Kompositionen Haywards zunächst wenig mehr tun, als langgehaltene Töne zu spielen. Die Harmonien, die sie erzeugen, sind jedoch nicht nur anders als bei einer gewöhnlichen Blaskapelle, sie reagieren auch anders. In ihren mikrotonalen Frequenzen kommt die Obertonreihe zum Tragen, natürliche Schwingungen, wenn man so möchte, die auf ganzzahligen Proportionen beruhen.
Mathematisch sieht so etwas sehr aufgeräumt aus, in der Praxis hört es sich aber auf eigentümliche Weise bewegter an als „normale“ Töne. In der Welt von Microtub reiben sich die oft kleinen Tonabstände so energisch, dass zusätzliche Klänge und Rhythmen allein aus den Überlagerungen der Frequenzen entstehen. Diese Schichten, die mit- und gegeneinander schwingen, sind musikalisches Ereignis genug. Melodien braucht es keine.
Mehr Melodien bietet dafür die Berliner Band 13 Year Cicada. Das Quartett um die Sängerin und Keyboarderin Zooey Agro ist im weitesten Sinne eine Rockband. Soweit man das bei der Besetzung, die zusätzlich Bass, Schlagzeug und Vibrafon auflistet, überhaupt sagen kann. Irgendwo zwischen Post-Rock, Psychedelik, Jazz und freier Improvisation navigieren sich die Musiker durch ihre Vielzahl an Einflüssen.
Die „13 Year Cicada“, zu Deutsch Magicicada, nach der sich die Band benannt hat, lässt sich im Larvenstadium 13 Jahre Zeit, bis sie ausgewachsen sind. Man scheint hier mithin in größeren Einheiten zu denken. Ganz so, wie in den mal verhalten-verträumten, mal impulsiv-hakeligen Stücken auf „Totem Tongue“ stets die gleiche Disziplin am Werk ist. Ein gut geschlüpftes Debütalbum.
Tim Caspar Boehme
Microtub: „Bite of the Orange“ (Sofa)
13 Year Cicada: „Totem Tongue“ (Gandula), live 4. 3., Schokoladen
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