Berliner Volksbühne: Der Aufstand als Heimat
Frank Castorf präsentiert seine brasilianische Produktion "Schwarzer Engel" in der Volksbühne und verschränkt Nelson Rodrigues mit Heiner Müller.
Im vergangenen Jahr reiste Frank Castorf nach São Paulo, um dort mit brasilianischen Schauspielern ein Stück des Dramatikers Nelson Rodrigues einzurichten: "Anjo Negro", ("Schwarzer Engel"). Castorf kreuzte den Text aus dem Jahre 1946 mit Heiner Müllers Stück "Der Auftrag". Daher rührt der komplizierte Titel der Inszenierung, die Ende November in São Paulo Premiere hatte und nun an der Berliner Volksbühne zu sehen war: "Schwarzer Engel von Nelson Rodrigues mit der Erinnerung an eine Revolution: Der Auftrag von Heiner Müller". Figuren aus "Anjo Negro" treten so in Kontakt mit Müllers Angestelltem, den der Fahrstuhl am Ende des ersten Monologs nicht ins Büro seines Vorgesetzten entlässt, sondern, "ohne Auftrag", auf eine "Dorfstraße in Peru". Hinzu kommen drei Abgesandte der Französischen Revolution. Sie stiften auf Jamaica einen Aufstand gegen die britische Kolonialmacht an.
Eine ideale Konstellation, um zu fragen: Wie weit reicht das Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sobald man an der Peripherie ist? Eint ein gemeinsamer Kampf? Oder bleiben die Unterschiede - in der Hautfarbe, im Besitz und in der Herkunft - wirkmächtig? So viel ist dabei klar: Wenn Lars von Trier in "Manderley" zuletzt die These verfocht, Sklaven fühlten sich in der Sklaverei am wohlsten, dann setzen Castorf und Müller auf das Gegenteil: "Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand", verkündet ein Mitglied des Chors.
"Anjo Negro" wiederum verhandelt die Beziehungen von Schwarzen und Weißen als Familiendrama. Virgínia ist weiß und mit dem Schwarzen Ismael verheiratet. Der vergewaltigt sie und sperrt sie ein. Sie tötet die Söhne. Unter dem Laken des Ehebettes liegt dunkle Erde, wie gemacht für ein Grab.
Castorf besetzt die Figuren entgegen ihrer Hautfarbe, Virgínia wird - großartig - von der schwarzen Sängerin und Schauspielerin Denise Assunção gegeben, ihr Mann Ismael von dem weißen Schauspieler Roberto Áudio. Schon bei der Uraufführung 1948 war Ismaels Darsteller weiß. Damals betrieb er blackfacing.
Das große Format der griechischen Tragödie - eine Familie zerfetzt sich in Vergewaltigung, Inzest, Mord und buchstäblicher Blendung - wird beständig angespielt und manchmal in ein grausames Spiel synkretistischer Gottheiten überführt. Doch genauso gerne lässt Castorf alles Geschehen in Bert Neumanns Neustadt-Bühne in eine überhysterische Telenovela kippen. Nicht umsonst leuchtet in luftiger Höhe ein Neonschriftzug: "Romantic World" - ganz so, als sollten sich die Medea- und Ödipus-Fragmente in rosafarbener Trivialität auflösen. Schön ist das, wenn Castorf es bis zur Infantilität treibt, wenn zwei Nebenfiguren - die namenlose Tante und deren 16 Jahre alte Großnichte - unter den Palmen aus Stanniolpapier stehen und sich gegenseitig auf die Hände hauen. Die Tante sagt "nein", die Großnichte "doch", die Tante "nein", die Nichte "doch".
In solchen Augenblicken von Leerlauf, Wiederholung und Nonsens kommt die Inszenierung zu sich. Doch schon bald setzt das videogestützte Verausgabungstheater wieder ein, das man von Castorf gewohnt ist. Wie eine Maschine, die alles nivelliert, die einzelnen Figuren, die so unterschiedlichen Texte von Rodrigues und Müller, das 18. Jahrhundert, Candomblé, Revolutionen, Familienfehden. Dann büßen die Sätze Heiner Müllers alle Dialektik ein und hängen bleischwer im Display über der Bühne. Castorf mag zwar mit Hautfarbe entschieden antinaturalistisch verfahren, trotzdem fragt man sich, ob er nicht letztlich doch einer seltsamen, auf Lateinamerika projizierten Romantik von Revolution erliegt. Und manchmal möchte man auch einfach nur wissen, ob dieser Regisseur sich Schauspielerinnen vorstellen kann, die ohne Pfennigabsätze an den Fersen zur Welt gekommen sind.
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