Berliner Tagebuch: Zuflucht im Zoo-Bunker
■ Eine neue taz-Serie: Berlin vor der Befreiung. Heute: 1. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Der große Zoo-Bunker ist zum neuen Symbol von Berlin geworden. Heute hat mich ein Alarm zu überraschender Stunde dort hineingetrieben. Das heißt: Ich bin in eine Welle, die immer schäumender und dickflüssiger wurde, gespült und schließlich hineingesogen worden. [...] Der Strom, grün und morastig wie ein Moosklotz aus der Fabelwelt, sperrte sich gegen die heranquellenden Massen von kleinen, angstgetriebenen Menschlein. Nur zwei kleine schmale Schlitze öffneten sich für die Ozeane von Schutzsuchenden. Jede Minute, die verstrich, schüttelte diesen Stausee von Menschen vor den unerschütterlichen Turmmauern nervöser und aufgeregter durcheinander. Den beiden kleinen Rinnsalen nach drängte das stürmische Gewoge die Wartenden und immer neu Heranströmenden. Sie wollten alle herein.
Es mochten noch tausend oder fünfzehnhundert um Einlaß kämpfen – da geschah etwas Erregendes. Ganz in der Ferne war ein schwacher, dumpfer Klang zu hören. Ein erster Schuß. Das Gewoge schwoll blitzschnell zum Sturm. Schreie lösten sich aus der Menge. Als die Kanonen auf dem Turm ihre ersten Granaten lösten, drehte mich der Strudel ins Gemäuer.
Drinnen gab es kein Halt. Zuerst schob es uns durch schmale Gänge, durch immer neue Mauern, durch Räume, die jeder für sich vollgepfropft mit Menschen waren. Eine große Halle mußten wir durchqueren. Wir hätten die Schilder: „Nur für Frauen mit Kleinkindern...“ nicht gebraucht, um uns zu erschrecken. Hunderte, nein, es waren mindestens tausend bis zweitausend Mütter, mit Babys auf dem Arm, Kindern in Kinderwagen, alle zueinandergetrieben zu einer riesigen Menschenherde, in eine dumpfe, kalte, von keinem freundlichen Gesicht, keiner Blume, keinem Bild erhellte Betonhalle. In der nächsten Halle hockten sie auf dem nassen, lehmigen Boden: die Krüppel dieses und des vorigen Krieges, Männer im Rollstuhl, Männer mit Krücken, Männer mit dunklen Brillen vor den Augen. Eine Armee von Denkmälern, die sich dieses Vaterland gesetzt hatte.
Matthias Menzel
Aus: „Die Stadt ohne Tod“, Berlin 1946. Menzel ist das Pseudonym für Karl Beer (1909-1979). Beer war Redakteur der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“. 1946 Auseinandersetzungen um seine Tagebücher, weil der Autor „den ganzen Krieg über“ den „Reich-Artikeln von Goebbels Konkurrenz gemacht“ habe („Tagesspiegel“, 10. 8. 1946).
Recherche: Jürgen Karwela
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