Berliner Tagebuch: Erste Tagesbefehle
■ Berlin vor der Befreiung: 4. Mai 1945
Foto: J. Chaldej / Voller Ernst
Wir bekamen neue und erschütternde Eindrücke vom Schlachtfeld Berlin. Es ist unmöglich, die Vernichtung in Worten zu beschreiben. Das gesamte Zentrum, das Regierungsviertel und die Gegend um die Tiergartenfestung sind total zerstört. Die Straßen sind mit Wracks von ausgebrannten Autos, Panzern, Motorrädern, Geschützen und dergleichen übersät. Allerdings ist auf den Hauptverbindungswegen bereits soviel Raum geschaffen worden, daß die Russen sich mit ihren unglaublich zahlreichen Autos und Pferdefuhrwerken durchschlängeln können. Blutjunge Verkehrs-Beamtinnen mit dem Gewehr über der Schulter sind an den Straßenecken in Funktion.
Bis jetzt hat man noch keine Zeit gefunden, alle Leichen und Kadaver zu beerdigen. Man ist aber damit in vollem Gange. Um die russischen Gefallenen kümmern sich die Russen selber. Die Deutschen müssen ihre eigenen Toten begraben.
Die Berliner müssen aufräumen, Barrikaden entfernen und so fort. Überall sind die ersten russischen Tagesbefehle angeschlagen. Von 22 Uhr abends bis 8 Uhr morgens (russischer Zeit) dürfen sich keine Zivilpersonen auf der Straße zeigen. Radioapparate, Fotoapparate und Waffen müssen abgeliefert werden.
Viele Berliner sind ständig unterwegs. Die meisten haben keine Bleibe mehr. Unzählige kampieren unter freiem Himmel in dem mit havariertem Kriegsgerät übersäten Tiergarten. Bei allen Wasserpumpen stehen Menschen in langen Reihen. Hungernde sind auf der Jagd nach etwas Eßbarem. Ihr Suchen ist oftmals von Erfolg gekrönt: Sie finden Proviant bei gefallenen Soldaten, in zerschossenen Fahrzeugen, in zerbombten Häusern. Jacob Kronika
„Der Untergang Berlins“, Verlagshaus Christian Wolff, Flensburg-Hamburg 1946
Jacob Kronika, dänischer Journalist (1897-1982), zwischen 1932 und 1945 Berlin-Korrespondent der dänischen Zeitungen „Nationaltidende“ und „Dagens Nyheter“ sowie der schwedischen „Svenska Dagbladet“. Im nationalsozialistischen Berlin spielte er außerdem eine besondere Rolle, weil er von offizieller Seite als Sprecher der dänischen Volksgruppe in Südschleswig anerkannt war. Kronika bewegte sich daher ständig zwischen dem Vorwurf der Kollaboration und des Widerstands.
Recherche: Jürgen Karwelat
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