Berliner Szenen: Regenwetter
Jede Ecke besetzt
Ich stehe vor dem Torbogen des deutschen Herzzentrums und weiß nicht wohin. Ich wollte meinen Vater nach einer Herzoperation am Vortag besuchen, wurde an der Anmeldung aber abgewiesen: Wegen Bettenmangels konnten die Ärzte ihn nicht auf die Intensivstation verlegen, in den Aufwachraum neben dem Operationssaal darf in der Woche wegen des laufenden Operationsbetriebs kein Besuch.
Am Nachmittag habe ich einen Termin in der Nähe, zurück nach Hause fahren lohnt nicht. Es regnet. Spontan steige ich in die S-Bahn und fahre in die Wohnung meines Vaters. Nachdem ich die Pflanzen alle gegossen und den Briefkasten geleert habe, finde ich nichts mehr zu tun. Die leere Wohnung macht mich unruhig. Ich gehe spazieren. In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, hat sich wenig verändert.
An gewöhnlichen Tagen laufe ich wie ferngesteuert durch die gewohnte Umgebung. Heute ist jede Ecke mit Erinnerungen besetzt. Ich laufe durch die Straße, in der ich die Grundschule besucht habe, beobachte kurz die spielenden Kinder auf dem Pausenhof und gehe dann in den benachbarten Park. Die Wiese auf der meine beste Freundin und ich als Kinder gespielt haben, ist unverändert: Ich setze mich und blicke aufs Wasser.
Dann laufe ich zum Bus. Von der Haltestelle aus habe ich einen Blick auf die Straße, in der früher mein bester Freund gewohnt hat. Er lebt immer noch in der Stadt, hat sich aber seit Jahren nicht gemeldet und ist bei meinen letzten Versuchen ihn anzurufen, nicht rangegangen. Die letzten zwei Male, die ich ihn gesehen habe, waren auf der Beerdigung seines Vaters und nach der Geburt meiner Tochter. Früher hätte ich ihn an so einem Tag angerufen. Kurz denke ich darüber nach. Dann beende ich die Reise in die Vergangenheit, lösche seine Nummer und nehme den nächstbesten Bus. Eva-Lena Lörzer
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