Berliner Szenen: Crashkurs Landeskunde
Elektrisiertes Grölen
Sonntag, S-Bahn Tiergarten. Ich setze mich zu der Gruppe gut gelaunter Männer mit Badges um den Hals. Konferenzteilnehmer. Sie sprechen eine mir unbekannte Sprache. So etwas weckt immer mein Interesse. Diesmal errate ich das Herkunftsland schnell, es fallen immer wieder die Wörter „Moldova“, „Kischinau“, gelegentlich auch Wortfetzen auf Russisch. Sie sprechen also Rumänisch und kommen aus der Republik Moldau. Laut, aufgeregt, sympathisch. Haben sich halt viel zu erzählen, so etwas gibt es auch. Der Mann gegenüber versucht krampfhaft weiterzulesen.
Nächster Halt. Vier Musiker stürmen den Wagen. Ziehharmonika, Yamaha-Keyboard, Donnerpauken. Auf einmal ist man in einem Kusturica-Film. Der zahnlose Bandleader mit dem Charme eines Johnny Depp in Rente steppt sich den Weg durch die Reihen. Meine Konferenzteilnehmer sind sofort elektrisiert. Ab jetzt gibt es kein Halten mehr. Alles grölt durcheinander, Mützen werden getauscht, Schultern bekloppt, Witze gerissen.
Mein Nachbar klappt sein Buch zusammen und schmeißt es mit Nachdruck in seine Tasche. Die Band verschwindet genauso schnell, wie sie aufgetaucht ist. Der Badges-Träger schräg gegenüber schaut ihr entzückt durch die Fensterscheibe nach. „Waren das rumänische Musiker?“, frage ich ihn auf Russisch. „Oh ja, fantastisch, nicht wahr?“ Er freut sich über den neuen Gesprächspartner. Und was sagt er zu Igor Dodon, dem frischgebackenen prorussischen Wahlsieger von Moldau, will ich wissen. Er habe für ihn nicht gestimmt. Sei er also gegen eine Annäherung an Russland? Natürlich! Moldau gehöre zu Rumänien, ganz klar. Und was wird jetzt? „Was soll schon sein? Es ist alles längst entschieden! Sie denken doch nicht im Ernst, dass die da oben das Volk wirklich fragen werden, oder?“
Irina Serdyuk
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