Berliner Szenen: Am Hermannplatz
Schuld haben
Fahrradunfall am Hermannplatz. Vor mir biegt eine Fahrradfahrerin unerwartet und ohne ein Zeichen zu geben ab. Ich reagiere schnell, mein Fahrrad versucht es auch, doch es ist zu alt, um blitzschnell zu bremsen. Die Frau und ich stoßen zusammen. Ich merke, wie ich vom Fahrrad stürze und wie ich nichts dagegen machen kann.
Tasche, Handy mit Kopfhörer und der frisch gebackene Geburtstagskuchen machen eine Notlandung. Meine Sachen liegen verstreut auf dem Fahrradweg und darüber hinaus.
Mein Fahrrad ist in Ordnung, ihr Fahrrad nicht mehr ganz, verletzt sind wir beide nicht, nur erschrocken. Wut kommt hoch, und die Frau und ich schreien uns natürlich an.
Du hast das und das gemacht! Du hast das und das nicht gemacht! Du warst so und so! Und du so und so!
Wir werden immer lauter, wiederholen aber immer dieselben Phrasen. Die Passanten gehen an uns vorbei, keinen interessiert unser Streit. Oder vielleicht haben sie die Nase voll von Streitereien und Eskalation. Mir geht es zumindest so. Eigentlich habe ich dieser Tage überhaupt keine Lust zu streiten. Ich denke an die Welt, und mir kommen die Tränen. Alles ist so schlimm! Ich höre nicht mehr, was wir sagen, in meinem Kopf spielt sich ein eigenes Drama ab, das nichts mit Fahrradunfällen zu tun hat.
Plötzlich schauen wir uns in die Augen und hören auf zu reden. Wir schweigen einen Moment lang. Die Frau und ich umarmen wir uns.
Entschuldigung, es war meine Schuld. Nein, meine Schuld, sorry! Nichts passiert!
Schließlich lachen wir und bringen das Chaos auf dem Fahrradweg gemeinsam wieder in Ordnung.
Geht’s dir gut? Ja, wirklich, ja. Und dir? Ja, mir auch!
Alles ist gut, sehr gut.
Wir wünschen uns einen schönen Tag. Den werde ich jetzt sicher haben. Luciana Ferrando
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