Berliner Szenen: Über Kreuz in Neukölln
Shades of Grey
Früher hatte das W von morgens bis abends auf. Früher, als die Friedelstraße weniger beschickvölkert war, als sie es heute ist. Früher, als der Gratisstadtplan des KadeWe die Friedelstraße noch nicht fett und rot als sehenswert markierte. Jetzt macht das W, dort gibt es am Tresen rassigen Espresso für 90 Cents, erst um 16 Uhr auf. Da es 17.47 Uhr ist und der zähe Text unter den Fingern keinen Deut zarter wird, verlangt der Gaumen nach jenem Espresso. Hinaus aufs Trottoir, sich einreihen zwischen Zwillingskinderwagen, Quengelbengel und Turnschuhhengsten, und dahinten, tatsächlich, da sind zwei Frauen mit Kopftuch unterwegs. Fast möchte man hinrennen und ihnen eine Milieuschutzprämie auszahlen, aber so was geht natürlich nicht. Der Espresso ist wie stets rassig, und jetzt gelüstet einen nach Kuchen.
Diese Anwandlung wächst sich in Berlin oft zu einem Problem aus. Denn was den Genuss angeht, ist hier Schmalhans überproportional Backstubenmeister, und man sehnt sich nach einer voll fetten bayerischen Konditorei, in der es Strauben gibt und ein ordentliches Stück Prinzregententorte. Aber was sonst sollte man in Bayern noch wollen?
Statt also in die nahe liegende, recht verhungert wirkende Biobäckerei einzukehren, steuert man einen Spätkauf an. „Leibniz Zartbitter Keks“ soll es jetzt sein, und gierig wird draußen die Packung aufgerissen. Komplett ergraute Kekse mustern einen trübe, ja fast angewidert. Niedergeschlagen dreht man um, zeigt den gräulichen Inhalt der Verpackung dem Verkäufer. Der sagt nur: „Die haben Sie ja schon aufgemacht, die nehme ich nicht zurück.“
Baff dreht man sich auf dem Absatz um. Vor der Tür reißt die Tüte. Das ebenfalls eingeholte Bier ergießt sich aufs Pflaster. Ein Grauen da draußen. Innen an einem zähen Stück Text zu sitzen ist schön. Harriet Wolff
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