piwik no script img

Berliner SzeneDie Schildkröte

Streit mit Mama

Ihre Haare sind sorgfältig geflochten. Sie weint

U6 zwischen Kochstraße und Wedding, 18 Uhr abends, voll gequetscht mit müden Nachhausefahrgesichtern. In der Station Stadtmitte steigt ein kleines Mädchen ein, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sie trägt eine rosa-pink gemusterte Jacke, weiße, plüschige Ohrenschützer und ihre Haare sind sorgfältig geflochten. Sie weint.

Schweigend setzt sie sich auf den Platz neben mir. Niemand der anderen Eingestiegenen hat einen „Ich pass auf dich auf“-Blick in den Augen.

Ich spreche sie an: „Bist du hier ganz allein unterwegs?“ Sie presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf, die Tränen fließen weiter, ab und zu hebt sich ihre Brust kaum merklich, und sie schluchzt.

„Wer ist denn mit dabei?“ Sie nickt mit dem Kopf in Richtung einer Frau, die einige Plätze weiter sitzt. „Mit meiner Mama.“ Jetzt sehe ich es, die Frau hat einen Schulranzen zwischen ihren Beinen stehen, auf dem Disney’s Eisprinzessin lächelt. Sie schaut teilnahmslos in die andere Richtung, beachtet weder das Kind noch mich. „Habt ihr euch gestritten?“, frage ich. Das Mädchen nickt.

Die Tränen laufen wieder über ihre Wangen. In mir zieht sich alles zusammen. Ich weiß, ich kann die Frau nicht ansprechen, es ist ihre Entscheidung, wie sie mit ihrer Tochter umgeht. Das Mädchen ist gepflegt, die Frau sieht wohlhabend und gebildet aus.

„Möchtest du den Hund streicheln?“ Ich schiebe meinen Hund in ihre Richtung. Sie schüttelt den Kopf. Ich kraule ihn hinter den Ohren und sage: „Guck, er ist ganz weich!“ Sie streckt ihre schmale Hand mit steifen Fingern und streichelt ihn kurz. Sie nickt bestätigend. „Hast du auch ein Haustier?“ Sie nickt. „Eine Schildkröte.“ Sie spricht so leise, dass ich sie kaum verstehe. Ich gucke zu ihrer Mutter, die jetzt auf ihrem Handy tippt.

Nicola Schwarzmaier

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen