Berliner Szene: Entschleunigter Austausch
Gaslaternen
Manchmal stellen sie plötzlich Absperrgitter auf. Kommen mit einem kleinen Bagger und reißen eine Graben hinter der alten Laterne auf. Sie kappen die angegammelten Gasleitungen und bauen eine Stahlkonstruktion in den Boden. Dann holen sie, wahrscheinlich früh morgens, den alten „Peitschenmast“. Daneben wird dann einige Zeit später die neue Elektroleuchte gesetzt. Überhaupt Zeit: Dieser Faktor scheint beim Austausch der uralten Gaslaternen – Ersatzteile gibt’s nur noch in Indien – überhaupt keine Rolle zu spielen.
Die alten haben mit ihrem funzeligen, warmen Licht viele Fans, die gegen neue Leuchten protestieren. Damit die nicht plötzlich geblendet werden, macht man extra langsam. In der Grimmstraße in Kreuzberg, die vielleicht 25 Lampen hat, bastelt man schon über drei Jahre. Noch sind zwei Laternen nicht ausgetauscht. Lange Jahre schienen sie verschwenderisch Tag und Nacht, jetzt fehlt ihnen die Kraft, den Laubhaufen auf dem Asphalt auszuleuchten.
Wenn die neuen aufgestellt und festgeschraubt sind – leider habe ich nur einmal einen Tieflader vorbeifahren sehen –, ist noch nicht Schluss. Die Masten müssen noch dunkelgrau angepinselt werden, und untenrum erhalten sie einen Anti-Hunde-Pipi-Anstrich, was komischerweise alles nicht passiert, wenn sie noch rumliegen. Irrerweise malt jemand zunächst nur die Stellen silbergrau an, wo Straßenschilder oder Papierkörbe angebracht werden. Nach Wochen kommt er wieder und malt den Rest an.
Typisch für unsere Stadt ist nicht nur das Zeitlupentempo der Umrüstung. Damit spätere Generationen noch was zu tun haben, stattet man die Lampen mit veralteten Neonröhren aus. Sollten die letzten Gaslaternen verschwunden sein, werde ich zum Gedenken abends eine Kerze an die Straße stellen und anzünden. Andreas Becker
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