Berliner Szene: Soziale Kontakte
Fast Moskau
Am schlimmsten sind die freien Werktage. Die, an denen nichts zu tun ist. Die, an denen die anderen unterwegs sind oder arbeiten. Tage, die auf dich warten wie schwere Gewichte.
Es ist wieder so ein Tag. Ich habe nichts zu tun, aber Sport ist gut, also gehe ich schwimmen. Es ist kurz nach Mittag. Auf dem Weg zum Schwimmbad begegnen mir die Menschen des Viertels, aber ich kenne niemanden, obwohl ich hier schon seit fast drei Jahren wohne. Das gleiche Bild im Stadtbad Neukölln: lauter Köpfe mit den irrsten Schwimmstilen, niemand trägt eine Badekappe, manche haben Schwimmbrillen auf, ich habe sie alle noch nie gesehen.
In der großen Halle lassen sich nur schlecht Bahnen ziehen, weil das Becken in den Spaßbereich ausläuft, in dem Kinder und Jugendliche herumtollen. Die kleine Halle ist wie so oft aus „technischen Gründen“ geschlossen. Ich habe ein Buch dabei, lustigerweise „Der Schwimmer“ von John Cheever. Nach den ersten 15 Bahnen lege ich mich lasziv auf eine dieser Steinbänke am Beckenrand und lese. Niemand beachtet mich. Ich lege das Buch weg, erledige die zweite Hälfte meines Pensums, gehe dann duschen und irgendwann zurück zur Ankleide. Ich hätte genauso gut nach Moskau fahren und da schwimmen gehen können.
Am Ende verabschiedet sich ein Mann von mir, den ich erst nackt gesehen habe, der sich dann in einen intellektuellen Geschäftsmann verwandelte (ein Dozent, ein Redakteur der bürgerlichen Presse, so eine Art Martin Mosebach, seiner Kleidung nach) und der schließlich mit mir über mein Auf-einem-Bein-Hüpfen lachte, weil ich Wasser im Ohr hatte. Keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Aber er ist mein erster wirklicher sozialer Kontakt heute.
Berlin ist Moskau an diesen Werktagen, eine von allem sehr weit entfernte Stadt.
René Hamann
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