Berliner Sozialgericht: Grün ist Hartz IV
Erst waren es 7.000 Klagen, jetzt sind es fast 27.000. Wie das Berliner Sozialgericht im 30-Minuten-Takt über Diabetes-Zuzahlung oder Versicherungsbeiträge von Alleinerziehenden entscheidet.
Seit sieben Monaten arbeitet Richterin Nora Jangor am Berliner Sozialgericht. Wenn man so will, ist sie Teil einer Truppenaufstockung. Vor Hartz IV arbeiteten hier 55 Richter. Heute sind es 102, und bald schon werden es 120 sein. Sogar eine alte Kantine im Gerichtsgebäude musste neuen Dienstzimmern für die Richter weichen. Ihr Auftrag: Frieden schaffen im Gefecht zwischen Jobcentern und Bürgern. Rechtsfrieden. Sozialen Frieden.
Fünf Jahre ist es her, dass mit Hartz IV die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Es sollte Schluss sein mit der mühseligen Ermittlung der Bedürftigkeit im Einzelfall. Eine einzige Pauschale für alle sollte her: Regelleistung plus Miete plus Heizkosten. Fertig. Schlanker, einfacher, effizienter sollte alles werden, glaubten die Regierungspolitiker im Bundestag. Keine fünf Minuten vom Reichstagsgebäude entfernt kann man im größten Sozialgericht Deutschlands beobachten, wie falsch sie damit lagen.
Die Klageflut wegen Hartz IV wird am Berliner Sozialgericht immer gewaltiger. 6.950 neue Klagen waren es 2005. Zwei Jahre später waren es schon 18.336. Und 2009 waren es nun sogar 26.748, wie das Sozialgericht am Freitag mitteilte. Vor lauter Hartz IV kommen die Richter in dem wuchtigen neoklassizistischen Gebäude in der Invalidenstraße zu fast nichts anderem mehr. Die Klagen gegen das Herzstück der rot-grünen Arbeitsmarktreformen machen inzwischen fast 70 Prozent aller Fälle aus. "Hartz IV ist die größte Herausforderung in der Geschichte des Berliner Sozialgerichts", sagt Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma.
In der Posteingangsstelle im Erdgeschoss, Zimmer 13, landen jeden Tag 3.000 Schriftstücke. Jedes einzelne Blatt müssen die vier Justizwachtmeister stempeln. Briefe, Faxe, Atteste, Einkommensnachweise, Klageschriften, Bescheide und Änderungsbescheide, Widersprüche und Widerspruchsbescheide. Das meiste davon landet am Ende zwischen zwei grünen Aktendeckeln. Mit kleinen Handwagen werden sie auf das ganze Gebäude verteilt. Überall sieht man dieses Grün, auf den Fluren, in den Geschäftsstellen, in den Gerichtssälen. Grün. Anderswo ist das die Farbe der Hoffnung. Hier ist es die Farbe für Hartz IV.
Saal 154. Ein karger Raum mit Linoleumboden und grau gepolsterten Stühlen. Nora Jangor hat ihre schwarze Robe übergeworfen, die blonden Haare sind zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie schlägt die grüne Akte auf, Aktenzeichen S 160 AS 11197/09. Es ist ihr erster Fall an diesem Tag. Danach wird die junge Richterin noch drei weitere Hartz-IV-Klagen verhandeln - und das ist nur ihr Vormittag.
Der Mann, der vor Jangor sitzt, behält seine dicke Winterjacke und die Wollmütze an. Er scheint sich vor Gericht nicht wohlzufühlen, obwohl er der Kläger ist. Bis zum März hat er 51,13 Euro auf sein Arbeitslosengeld II obendrauf bekommen, als "ernährungsbedingten Mehrbedarf" wegen Typ-II-Diabetes. Dann hat das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg ihm den Zuschlag gestrichen. Der Anwalt der Behörde beruft sich vor Gericht auf neuere medizinische Erkenntnisse und Expertenempfehlungen, kurzum: Bei der Krankheit komme man auch mit dem Regelsatz aus, der heute bei 359 Euro liegt.
Jangor will dem Kläger eine Chance geben. "Ich brauche Anhaltspunkte", sagt sie freundlich. "Ernähren Sie sich denn anders als andere?" Der Mann murmelt: "Na ja, schon so Obst und Gemüse." Er gehe manchmal auch ins Reformhaus. Die Richterin will es genauer wissen: "Sie müssen begründen, warum Sie mehr brauchen als der Durchschnitt." Vom Kläger kommt nicht mehr viel. Nach 15 Minuten schlägt Jangor ihm vor, seine Klage doch lieber zurückzuziehen. "Gut, meinetwegen", sagt der Mann. "Dann haben wir Ruhe."
Beim Hinausgehen reckt er dann aber doch noch kurz die linke Faust in die Höhe. "Venceremos", ruft er dem Anwalt des Jobcenters zu. Wir werden siegen.
Es ist der einzige Fall in Saal 154 an diesem Tag, der mit einer Niederlage für den Kläger endet. Zwei enden mit einem Vergleich. Bei einem gewinnt die Klägerin. Das ist nicht unüblich. In der Hälfte der Fälle, die am Berliner Sozialgericht landen, erringen die Kläger mindestens einen Teilerfolg. Das ist auch an den anderen deutschen Sozialgerichten in etwa die Quote. Das zeigt: Hier schlagen nicht nur Prozesshansel und Anti-Hartz-Protestler auf. Sondern Menschen, bei denen die Jobcenter geschlampt haben. Menschen, die nur zu ihrem Recht kommen wollen.
Um 11 Uhr sitzt eine alleinerziehende Mutter vor Jangor, ihr jüngstes Kind hält sie auf dem Arm. Ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom Amt hat die Frau schon 2007 erhoben. Sie war damals Studentin, das macht den Fall kompliziert, da Studenten im Normalfall keine Hartz-IV-Regelleistungen bekommen. Der Streit dreht sich um die Höhe eines Mehrbedarfs, der ihr als Alleinerziehender zusteht; und um die Frage, ob das Jobcenter in ihrem Fall die Krankenversicherungsbeiträge bezahlen muss. Richterin Jangor will den Fall abschließen. "Ein Vorschlag zur Güte", sagt sie und regt einen Vergleich an. "50 Euro pro Monat." Weil es um sechs Monate geht, wären das 300 Euro zusätzlich für die Frau. Doch der Anwalt vom Jobcenter will ein Urteil. Und er kriegt es.
Fünf Minuten zieht sich die Richterin zur Beratung mit den beiden ehrenamtlichen Richterinnen zurück. Dann wird das Jobcenter im Namen des Volkes dazu verurteilt, der jungen Mutter zusätzliche 1,69 Euro Mehrbedarf für jeden der sechs Monate zu überweisen. Und die Kosten für die Krankenversicherung zu übernehmen. Fast drei Jahre musste die Frau auf diese Entscheidung warten. Das Jobcenter kann noch in Berufung gehen.
Viele Fälle am Berliner Sozialgericht drehen sich immer wieder um dieselben Fragen. Was sind "angemessene" Wohnkosten? Muss das Jobcenter den Umzug zahlen? Wann ist es gerechtfertigt, das Arbeitslosengeld II wie stark zu kürzen?
Eigentlich würde man meinen, dass sich nach fünf Jahren manche Dinge nicht mehr ständig vor Gericht klären lassen müssten. Bei Hartz IV ist das anders. Hier werden sie immer wieder verhandelt. Tag für Tag. Im Dreißigminutentakt.
"Das sind keine Anfangsschwierigkeiten", sagt Richter Michael Kanert. "Die Probleme liegen im System." Kanert sitzt in Zimmer 25, der Geschäftsstelle seiner Kammer. Er hat gerade Verhandlungspause, der Knoten seiner weißen Krawatte ist gelockert, die Haare sind leicht verstrubbelt. Auch hier stapeln sich die grünen Akten. Links im Regal. Rechts im Regal. Auf dem Tisch. Überall Hartz-IV-Grün.
Michael Kanert war vier Jahre lang Sprecher am Berliner Sozialgericht und hat hunderte Hartz-IV-Fälle miterlebt. Seit Oktober ist er zwar nicht mehr Gerichtssprecher, aber über Hartz IV kann er sich immer noch ereifern. Er holt eine Akte aus dem Regal. Sie ist 511 Seiten dick.
Die gesetzlichen Regelungen seien zum Teil viel zu unbestimmt, sagt Kanert, etwa bei der Frage, welche Kosten für eine Wohnung "angemessen" sind. In anderen Punkten können die Gesetze wiederum zu kompliziert sein. Kanert nimmt sich einen Stift und ein leeres Blatt Papier. Er will veranschaulichen, wie schwierig es ist, Einkommen mit den Hartz-IV-Leistungen zu verrechnen. Kanert malt einen Kasten für den Vater, einen für die Mutter und zwei für die Kinder. Er zeichnet Pfeile, schreibt Zahlen dazu und wirft Quotienten in den Raum. Schließlich lässt er seufzend den Stift fallen. "Das ist noch komplizierter als im Steuerrecht", sagt Kanert. Und was ist, wenn jemand jeden Monat ein anderes Einkommen hat? "Dann wird es superkompliziert."
Zurzeit reden alle Parteien über eine Revision von Hartz IV. Es geht ihnen darum, das Vermögen großzügiger zu schonen. Um Verbesserungen für Alleinerziehende. Und um die Frage, ob das Arbeitslosengeld I nicht länger bezahlt werden soll, bevor die Menschen im Hartz-IV-System landen, das nur das Existenzminimum sichern soll.
Nach Ansicht der Sozialrichter wird eine Reform entscheidend sein, die in der Öffentlichkeit weniger diskutiert wird. Bis zum Jahresende muss die Politik die Struktur der Jobcenter völlig umbauen. Bisher waren die Bundesagentur für Arbeit und die Kommunen gemeinsam für sie zuständig. Diese "Mischverwaltung" hat das Verfassungsgericht im Dezember 2007 für unzulässig erklärt. Doch wie eine neue Struktur aussehen soll, ist nach wie vor unklar. Gut möglich, dass es in Zukunft mehrere Zuständige für einen Hartz-IV-Empfänger gibt. Einen für die Regelleistungen. Und einen für die Mietkosten. Es wäre der endgültige Abschied von der Idee der "Leistung aus einer Hand".
"Ich befürchte, dass der Verwaltungsaufwand noch höher wird", sagt Sozialrichter Kanert zu den bisher bekannt gewordenen Plänen. Es schüttelt ihn fast bei dem Gedanken daran. "Das kann doch keiner wollen!"
Mehr Verwaltungsaufwand, das bedeutet noch mehr Fehler. Und mehr Fehler bedeuten noch mehr Klagen. Und das bedeutet noch mehr Akten. Noch mehr Hartz-IV-Grün.
In der Poststelle im Erdgeschoss des Berliner Sozialgerichts, Zimmer 13, wird in wenigen Monaten Klage Nummer 100.000 eingehen. Die hunderttausendste Klage wegen Hartz IV.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht