Berliner Obdachloser über "Assis": "Ich bin der Fußabtreter für alle"
Alfit H. Tomela lebt auf der Straße. Seit vier Jahren. Einst hat er Jura studiert. Doch landete er auf Heroin, dealte und saß im Knast. Heute ist er der Mann mit den vielen Tüten und den meisten Hausverboten.
taz: Herr Tomela, wie würden Sie Ihre Lebenslage bezeichnen?
Alfit H. Tomela: OfW. So heißt das doch in der Fachsprache. Ohne festen Wohnsitz. Ich hab einen Pass ohne Adresse. Ich bin ein Assi. Da lege ich Wert drauf.
Was ist denn für Sie ein Assi?
Assis sind fit. Penner sind faul. Wie das Wort sagt. Außerhalb der Gemeinschaft stehend. Ich habe mit dem Pack nichts zu tun.
Wollen Sie mit der Gesellschaft nichts zu tun haben, oder werden Sie ausgegrenzt?
Ich finde keine Übereinstimmung. Das wird mir am laufenden Band gezeigt.
Seit wann leben Sie eigentlich auf der Straße?
Alfit H. Tomela ist ein Pseudonym. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Tomela kommt fast täglich in die taz, um sich eine Zeitung zu holen. Er lebt auf der Straße. Von 2003 bis 2005 verbüßte er in Tegel eine Freiheitsstrafe wegen Heroinhandels. Dort hat er in der Theatergruppe Aufbruch mitgespielt.
Tomela sagt, er sei der Mann mit den meisten Hausverboten in Berlin. Wegen Hausfriedensbruch in zig Fällen ist er vorbestraft: ein Jahr auf zwei Jahre Bewährung. Nun droht ein neuer Prozess: Wegen einer Sammelanklage von über 20 Anzeigen wegen Hausfriedensbruch muss er vor den Richter.
Es geht ums Ganze: Der zuständige Amtsrichter hat ihn aufgefordert, sich auf seine Schuldfähigkeit hin begutachten zu lassen. Tomela droht die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus.
Tomela ist 49 Jahre alt. Er ist in Gelsenkirchen geboren und bis heute Schalke-Fan. Seit 1978 lebt er in Berlin. Die Zentrale Studienplatzvergabestelle habe ihn hierher verwiesen. Er hat in Gelsenkirchen Abitur gemacht, Durchschnitt 2,0, und sei ein richtig guter Schüler gewesen. "Mein bestes Fach war Latein." An der Freien Universität hat er begonnen, Jura zu studieren. Seit mehr als 25 Jahren ist er drogenabhängig.
Silberpappel ist seine ständige Begleiterin. Die beiden haben kein Liebesverhältnis. Die 70 Jahre alte Frau hat er wegen ihrer weißen Haare Silberpappel genannt.
Seit ich im Herbst 2005 aus Tegel entlassen wurde. Vorher hatte ich eine Komplizin, bei der ich gewohnt habe. Wir haben zusammen Heroin verkauft. Deshalb hab ich drei Jahre in Tegel gesessen.
Und wer waren Ihre Abnehmer?
Zum Schluss die Junkiemädchen auf der Kurfürstenstraße.
Wo schlafen Sie denn?
Jeden Abend woanders. Im Sommer draußen, im Winter drin. Im Vorraum der Sparkasse oder der Volksbank.
Im Schlafsack?
Wozu denn? Ich bin doch immer breit.
Nehmen Sie eigentlich nur Drogen oder Trinken Sie auch?
Ich bin kein Trinker. Ich bin ein Junkie. Bier trinke ich nur nebenbei. Ich bin ziemlich hoch mit Polamidon substituiert. Jeden Morgen hole ich mir meine Ration bei meinem Arzt im Wedding ab.
Wie lange sind Sie schon drogenabhängig?
Seit über 25 Jahren - plus/minus. Heroin ist der beste Liebesersatz. Meine Sternliebste war mir weggelaufen. Das schönste Mädchen der Milchstraße. Ich war mal ein hübscher Bubi. Ich habe schon als Student angefangen zu junken. Ich habe 40 Semester Jura studiert und bin zweimal durchs Staatsexamen gefallen.
Woran sind Sie gescheitert?
Ich habe die Logik nicht verstanden.
Wie bitte? Die Logik?
Die Rechtswissenschaft hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Ich bin Wassermann und habe das Gefühl eines Königs. Ich bin nicht so abgebrüht, die Gerechtigkeit zu beugen. Das Problem ist, dass ich ständig drangsaliert werde von diesen faschistoiden Lümmels. Dass ich ständig Strafanzeigen bekomme. Ich bin in Berlin der Mann mit den meisten Hausverboten.
In welche Häuser dürfen Sie denn nicht mehr rein?
In jedem Discountladen von der Friedrichstraße bis zum Frankfurter Tor. Das Einzige, was ich kaufen will, ist Billigbier. Halt. Bei Getränke Hoffmann krieg ich noch was. Im Wedding habe ich auch Hausverbot. Von Netto vor der S-Bahn-Station Wedding bis hinunter zur Seestraße.
Und warum lässt man Sie dort nicht einkaufen?
Weil ich ein Untermensch bin.
Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen?
Ich verhalte mich absolut korrekt. Ich stecke immer eine Münze in die Karre, wenn ich einkaufen gehe. Im Einkaufscenter sagen sie: Lassen Sie ihr Gepäck auf der Straße.
Woraus besteht Ihr Gepäck?
Normalerweise habe ich 20 bis 25 Kilo dabei. In Tüten und Taschen. Das sind hauptsächlich Bücher und Zeitungen.
Ihr Gepäck in Tüten sieht aber auch nicht wirklich sehr ansprechend aus.
Ja und!? Das kann ich nicht verstehen. Ich gucke auch nicht, was andere Leute in ihrer Karre haben.
Wenn Sie gucken würden, würden Sie Milch, Fleisch und Gemüse sehen.
Was kann ich denn dafür, dass der Regen in meine Tüten reinkriecht? Ich habe schon alles einzeln verpackt. Wovor haben die Leute Angst?
Vielleicht weil Sie nicht sehr gepflegt wirken.
Deshalb muss man mich aus dem Supermarkt eliminieren? Wen geht es was an, dass ich dreckige Pfoten habe? Ich bin kein Arzt. Ich bezahle die Waren.
Ich suche nach Gründen, warum man Sie kein Bier kaufen lässt. Vielleicht torkeln Sie und haben eine Fahne?
Ich sagte doch schon: Ich bin nie betrunken. Ich humple ein bisschen, weil ich unterschiedlich lange Beine habe. Stellen Sie sich doch morgens mal an die Zeitungsläden in der U-Bahn. Da kann man sehen, wie viele Leute sich einen Flachmann holen.
Sie haben sich in den Läden nie danebenbenommen?
Nein. Gar nicht. Ich bin der Fußabtreter für alle. Verkäuferinnen. Wachschutz. Polizei. In den OsramHöfen im Wedding gibt es drei Zeitungsläden, wo man gekühltes Bier kaufen kann. In zwei komme ich nicht mal rein. Nichts geklaut. Nichts kaputt gemacht. Nicht die Fresse aufgerissen. Bei Migranten darf man keine große Klappe haben. Dann kommen Bruder, Cousin, Onkel; dann gibts richtig. Einen Mufti am Arsch, haste alle am Arsch.
Gebürtige Deutsche erleben Sie als netter?
Auch nicht. Was denken die Leute denn über Junkies? Was denken die Leute im Café über einen, dem ständig der Kopf auf den Tisch sackt? Das Verhalten der Berliner mit orientalischer Seele erkläre ich mir so: Auf den Migranten hacken doch auch alle rum. 80 Prozent der Deutschen denken: Mufti, Ölauge. Und die böseren: Kanake. Dann kommt so ein Dreckspatz wie ich mit seinen Tüten. Da denken die Orientalen, der ist Deutscher, an dem kühlen wir mal unser Mütchen.
Wie möchten Sie denn behandelt werden?
Ganz normal. "Guten Tag." "Auf Wiedersehen." Es geht um Höflichkeit und Anstand. Auch in dem Zwielicht, in dem ich mich bewege, ist das das Letzte, was ich vergessen wollte. Und mein Geld stinkt auch nicht.
Haben Sie überhaupt Geld?
Natürlich. Ich bekomme die Grundsicherung, bar im Rathaus ausgezahlt. Mich will keiner haben. Die Hartz-IVler wollen mich nicht und die Rente will mich auch nicht.
Sie sind viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Haben Sie dafür einen Fahrschein?
Muss ich ja wohl haben, mit dem vielen Gepäck. Ich werde ja ständig nach dem Fahrschein gefragt. Auch als Einziger. Diese Security-Typen sind die Allerschlimmsten. Die haben auch die Segnungen der Handyfotografie. Ich komme manchmal in Läden, wo ich noch nie war. Ob das jetzt in Weißensee ist oder in Lichtenberg. Wenn ich da reinkomme, werde ich gefragt, was ich letzten Freitag da und da angestellt habe. Die haben Steckbriefe.
In welchen Bezirken tingeln Sie denn hauptsächlich rum?
In Kreuzberg und Wedding. Nach Marzahn würde ich mich kaum hintrauen. Ich glaube nicht, dass ich da heile rauskäme. Assis werden da nicht geduldet.
Wie läuft eigentlich Ihr Tag ab. Wo haben Sie beispielsweise letzte Nacht geschlafen?
Auf einer Parkbank im Schillerpark im Wedding. Die wichtigen Sachen habe ich unterm Kopf, der Rest ist unter der Bank.
Lange geschlafen?
Ne, nur kurz. Manchmal kriegt man auch was geschenkt. Manchmal wird man angewichst. Zwischen halb drei und fünf Uhr spätestens wacht man auf. Dann sitze ich und lese und warte, bis der Doktor aufmacht und ich mir meine Tagesration Polamidon abholen kann. Ich lese viel. Auch beim Laufen.
Was denn?
Alles, was ich ohne Geld kriegen kann. Beim Rathaus gibt es eine Bücherkiste. Da findet man die unterschiedlichsten Sachen. Schund lese ich nicht. Graham Greene. Moderne Zeitgenossen sind ja kaum dabei. Thomas Mann habe ich auch alles gelesen. Heinrich Mann finde ich klasse.
Und was kommt nach dem Arzt?
Dann fahre ich nach Kreuzberg und hole mir mein Geld. Ich habe es bei einem Freund gebunkert. Der gibt es mir. Damit ich nachts nicht beklaut werde. Ich hole mir immer einen Tagessatz - so um die zehn Euro.
Wofür gehen die drauf?
Vor allem für Bier und Zigaretten.
Und nichts zu essen?
Wenig. Das hole ich mir meistens in einer Hilfseinrichtung. Am Fixpunktbus kann man Stulle fressen für 20 Cent und all so was. Obwohl, bei vielen Einrichtungen habe ich auch schon Hausverbot. Die Caritas hat mich auch rausgeschmissen. "Caritas" heißt Sorge. Das muss man sich mal vorstellen!
Was waren Ihre Eltern eigentlich von Beruf?
Das ist doch nicht interessant. Bürgerliche Mitte. Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ich weiß überhaupt nicht, ob sie noch leben.
Geschwister?
Ja.
Sie möchten nicht über Ihre Familie sprechen?
Nein! Ich will mich hier doch nicht prostituieren. Ich will, dass klargemacht wird, dass der Untermensch fröhliche Wiederauferstehung feiert.
Was sind eigentlich Ihre Talente?
Ich kann sehr charmant sein. Nein. Scheiße. Wir sollten über die Gesellschaft reden. Die Leute sind nur an sich selber interessiert. Ist es in Ordnung, wenn mich der Richter verurteilt, ohne mich gesehen zu haben? Oder wenn in der U-Bahn keiner reagiert, wenn ich sage, dass man mal ein Fenster aufmachen soll? Ist doch besser, man holt die Luft aus dem Tunnel als aus meiner räudigen Lunge.
Was haben die Leute stattdessen gemacht?
Keine Sau hat mich angeguckt. Die tun so, als ob ich nicht da bin. Als ob sie das noch nicht mal hören. Entweder Frontkämpferfresse oder Köttel in der Hose. So ist es doch.
Was ist denn eine "Frontkämpferfresse"?
Frontkämpferfresse ist, wenn man verbissen in eine Richtung guckt und so tut, als ob man in Gedanken weit weg ist.
Und wie reagieren Sie, wenn man Sie so ignoriert?
Manchmal werde ich so exaltiert, dass ich ne richtige Rede halte. Wenn es was ist, was mich aufregt, kann ich auch schon mal drei Minuten drüber sprechen: Nee, die deutsche Kartoffel macht kein Fenster auf. Der Deutsche hält durch bis Stalingrad. Und in Stalingrad werden nur die Waffen abgegeben. Dann geht es noch 2.000 Kilometer weiter bis ins sibirische Bleiwerk.
Kennen Sie eigentlich auch nette Menschen?
Ja sicher. Der Junge, der auf mein Geld aufpasst, und mein Hausarzt, die sind in Ordnung. Und Silberpappel natürlich.
Wer ist denn jetzt Silberpappel?
Eine gute Freundin. Sie passt auf mich auf. Sie steht unter Kuratel. Silberpappel ist eine Gastarbeiterin der ersten Stunde. Sie ist 1968 aus der Türkei hierhergekommen. Keiner hat ihr geholfen. Auch kein Landsmann, weil sie geschieden ist. Die erste Frage, die ihr gestellt wird, heißt immer: "Wo ist Mann?"
Was bedeutet "Kuratel"?
Entmündigt, weil bekloppt! Silberpappel putzt das Gleisbett und fegt die Straße. Sie hat immer einen Besen und eine Harke dabei. Einen Handkehrer und ne Kehrschaufel hat sie auch noch. Sie braucht Beschäftigung. Sie tobt schon um halb sechs auf der Straße rum.
Wo haben Sie sich kennengelernt?
Silberpappel hat mich gefunden. Vor der Bank, wo ich immer schlafe. Sie kann keinen bösen Gedanken fassen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die andere ausnutzen. Sie lässt auf dem Kiez zum Bespiel immer ihren Tabak offen rumliegen. Sie wird ständig angeschnorrt und gibt dann auch. Wenn Silberpappel getauft wäre, müsste man sie heiligsprechen.
Wenn Sie Ihr Leben noch mal beginnen könnten- würden Sie etwas anders machen?
Ach, Pisse! Das sind doch diese klassischen Klischees. Wissen Sie, wie Sie drauf sind, wenn Sie noch mal so drauf sind, wie Sie drauf waren? Ich bin doch kein Philosoph.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen