piwik no script img

Berliner Mauerwanderweg (Teil 2)Die Reiher warten schon

Hinter dem Schlesischen Tor schlängelt sich der Mauerweg lange durch eine grüne Idylle. Statt Geschichte entdeckt man das abseitige Berlin jenseits der Reiseführer: Rentner, Renndackel, Reiher.

Der Schießbefehl gilt noch. Anders ist gar nicht zu erklären, warum der Reiher mitten im Flutgraben auf einem kleinen Wehr regungslos verharrt. Mitten im Wasser zwischen Treptow und Kreuzberg, zwischen Ost und West. Hat nicht gerade jemand in tiefsten Sächsisch, furchtbar verzerrt durch einen klapprigen Lautsprecher, gebrüllt: "Stehen bleiben, nicht bewegen, sonst wird scharf geschossen"?

Es sind nicht unbedingt Szenen wie diese, die sucht, wer sich auf den Mauerweg begibt; auf diese einstige Schneise zwischen dem kommunistischen und den kapitalistischen Block. Eigentlich möchte man etwas von dem Gefühl von damals (wieder)entdecken oder etwas vor Augen haben, angereichert mit Geschichte(n). Das Schöne daran ist, dass zumindest einige Orte noch vorhanden und begehbar sind; das Furchtbare - oder furchtbar Enttäuschende - ist, dass sich dieses Gefühl fast nie einstellt. Was bleibt, sind oft etwas schiefe Bilder wie das vom Reiher, bei denen die Gegenwart die Vergangenheit deutlich überlagert.

Die 2. Etappe

Schon kurz nach dem Start ergibt sich die erste Möglichkeit zu einer reichhaltigen Pause: Der einstige Wachturm Schlesischer Busch ist einer der wenigen erhaltenen Kontrolltürme entlang des Grenzstreifens; heute sind dort regelmäßig Kunstausstellungen zu sehen.

Nach gut einem Drittel der Strecke bietet sich ein kurzer Abstecher in den Treptower Park und zum monströsen 1947 bis 1949 errichteten Sowjetischen Ehrenmal an: zum Staunen oder Im-Schatten-Ausruhen.

An den einstigen Grenzübergang Sonnenallee erinnert die bemerkenswerte Fernglas-Installation von Heike Ponwitz.

Chris Gueffroy war das letzte Opfer der Grenzsoldaten. Er wurde im Februar 1989 erschossen - daran erinnert eine Stele.

Alle Etappenbeschreibungen erscheinen unter taz.de/mauer

Anfangs war unklar, ob der Reiher überhaupt lebendig ist oder eine Installation eines durchgeknallten Kreuzberger oder etablierten Treptower Künstlers: Der lange Hals, mit dem der Vogel locker über jede Mauer blicken könnte; die staksigen Beine, mit denen er auch tiefe Gräben durchwaten kann. Eigentlich ein schönes Symbol. Aber das Tier ist echt; es kümmert sich nur nicht um die Enten, die ab und an vorbeifliegen; lässt sich nicht beirren von den Ausflugsdampfern namens "Spreediamant" und "Belvedere" in seinem Rücken auf dem Landwehrkanal, von den Fischen, die manchmal aus dem Wasser plöppen.

Der Mauerweg ist weniger ein Weg in die Vergangenheit als in die Gegenwart Berlins. Gerade auf der Etappe zwischen Schlesischen Tor und Neuer Späthstraße zeigt sich das. Natürlich finden sich historische Relikte am Wegesrand. Gleich zu Beginn einer der wenigen erhaltenen Wachtürme der DDR-Grenzer, jetzt ein Museum. Später, und etwas abseits der offiziellen Strecke, das monströse Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park. Auch mehrere Denkmäler der Bezirke erinnern an die Opfer der Trennung.

Und doch lernt man eher das abseitige Berlin kennen, die Stadt jenseits der für Touristen hochgejubelten Szene und City. Also Rentner mit Rollatoren, die sich über den gut geteerten Mauerweg schieben; arbeitslose Frauchen mit grellroten Strähnchen im Haar, die Moni ("eigentlich Monique") heißen und sich von Dackeln führen lassen. Horden von Rennradlern. Pärchen, deren Dialoge häufig mit Sätzen wie "Sind ja doch keine Gelder da" enden.

"Da ist er ja wieder." Die sonnenbebrillte Radfahrerin macht einen Kurzstopp auf der Treptower Brücke. "Ich freue mich jeden Tag, wenn ich ihn sehe." Der grenzüberschreitende Reiher hat schon eine gewisse Berühmtheit erlangt. Einige Tage habe der ausgestreckt gut einen Meter lange Vogel sich nicht mehr gezeigt. Denn er sitze immer genau dort - zwischen Kreuzberg und Treptow, sagt die Frau. Aber wie lange er bleibt, weiß sie nicht. "Ich muss ja weiterfahren."

Der Mauerweg zwischen Treptow und Neukölln zeigt auch, was die Wiedervereinigung wirklich gebracht hat: Supermärkte. An vielen Ecken auf dem Mauerstreifen haben sie sich breit gemacht, die Brachen überdeckt mit austauschbaren Nutzneubauten: Rewe, Netto, Aldi. Öde.

Zusammengewachsen, ohne zusammenzugehören, ist die Anreihung von Gartenkolonien entlang der Kiefholzstraße. "Sorgenfrei" und "Mississippi" heißen sie im Osten, "Freiheit" und "Märkische Schweiz" im Westen. Dazwischen der Weg. Nichts Verbindendes. Tiefgrün wird es danach, Vögel zwitschern, auf beiden Seiten, verborgen hinter Gebüschen, mehrstöckige Wohnbauten aus vier Nachkriegsjahrzehnten, frisch gestrichen. Der Mauerstreifen als Idyll.

Nahe der Stele für Chris Gueffroy, den letzten Mauertoten, sitzt Helmut Meyer. Unter dem Dach einer Rasthütte, neben sich eine komplette Funkausrüstung samt Autobatterie, darüber eine zehn Meter hohe Steckantenne. "Bitte der Rudi mal melden", spricht er in sein Gerät. Es knackt, rauscht, sonst passiert nichts. Auch "Weichseline" und "Günter" haben offenbar keine Lust zu antworten. Seit gut zwei Stunden harrt Meyer jetzt hier aus, hatte zwar sogar schon mit England Kontakt, aber seine Freunde an der nahen Sonnenallee, drüben im Westen, jenseits des Britzer Verbindungskanals, bleiben still. Genau umgekehrt wie damals vor langer Zeit, als die Mauer noch stand. "Die im Osten haben viel mitgehört", berichtet der Rentner, der ebenfalls in Neukölln wohnt. "Aber mit uns sprechen, das ging nicht. Die wären sofort angepeilt worden von der Stasi." Das ist jetzt vorbei - die große Zeit der Funker in Ost und West aber auch. "Die Handys haben das kaputtgemacht."

Auf dem Rückweg nach Kreuzberg sitzt der Reiher immer noch da. Vielleicht auch: wieder. "Toll, der Fischreiher", sagt die ältere Dame zu ihrem Gatten. Fischreiher? Weil er Fische isst? Oder doch eher Graureiher, weil er grau ist? "Hm. Vielleicht eher Letzteres - aber man erkennt ihn so schlecht, wie er da so ruhig sitzt." Eigentlich auch egal.

Und dann bewegt er sich doch: drei Schritte Richtung Westen! Unbeeindruckt von allen Grenze(r)n. "Valentino, Valentino! Falsche Richtung. Jetzt gibts Ärger!" Kurze Schrecksekunde. Doch die Drohung galt nicht dem Reiher. Es ist nur die Chefin der Kitagruppe auf der Jagd nach einem Ausreißer. Die Mauer ist schließlich längst Geschichte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!