Berliner Mauerwanderweg (Teil 15): Der Friedhof in der Schusslinie
Auf der letzten Etappe liegt der Invalidenfriedhof. Zu Mauerzeiten hat er schwer gelitten: Weil viele Grabsteine und Bäume die freie Sicht der Grenzsoldaten einschränkten, wurden sie mit schwerem Gerät abgeräumt. Erst spät regte sich dagegen Widerstand.
Der Friedhof war im Weg. Ganz am Rand des östlichen Teils von Berlin gelegen, von der Mauer in zwei Teile zerschnitten, barg er zu viele Gefahren. Potenzielle Flüchtlinge könnten sich als Friedhofsbesucher tarnen. Sie könnten Blumen niederlegen, um dann die Mauer zu stürmen und mit einem Sprung in den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal, der noch zu Ostberlin gehörte, in Richtung westliches Ufer zu schwimmen. Die Grabsteine würden herrliche Deckung bieten, die Bäume waren dicht. Die freie Sicht der Grenzsoldaten auf alles, was sich auf dem Gelände bewegt, würde ebenso behindert werden wie die Flugbahn der Kugeln. Es musste etwas geschehen.
Es geschah, was Laurenz Demps, Historiker und ehemaliger Professor an der Humboldt-Universität heute so beschreibt: "Rund 90 Tonnen Grabsteine wurden über die Jahre hinweg abgeräumt." Mit schwerem Gerät rückte das Räumkommando dabei an, so dass nicht nur Grabsteine entfernt, sondern auch das restliche Gelände des Invalidenfriedhofs schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.
An der Garten- Ecke Bernauer Straße eröffnet ein Blick nach rechts die Sicht auf 212 Meter Originalmauer. Die Touristendichte an der Gedenkstätte ist gering, dafür die Gefahr einer Staubwolke aus der Brache hinter der Mauer um so höher.
Wie lang und bedrückend schon eine normale Mauer sein kann, lässt sich im hinteren Teil der Gartenstraße erfahren. Von der Bernauer Straße bis hoch zur Liesenstraße säumt eine Backsteinmauer den linken Straßenrand. Wer durch einen der beiden Eingänge geht, sieht zunächst eine weitere Mauer, dahinter liegt eine verwilderte Grünfläche und alte Schienen. Irgendwo sollen sich außerdem zwei Volleyballfelder verstecken.
Am östlichen Ende der Liesenstraße steht ein weiterer Mauerrest, angenehmerweise mal ohne Gedenkstätte. Zerbröckelnd, überwuchert, mit verrosteten Stahlstreben und vereinzelten Graf-
fiti.
Völlig unvermittelt taucht zwischen Mehrfamilienhäusern in Altrosa, Hellblau und Creme am Ende der Kieler Straße ein alter Wachturm auf. Er soll an den ersten Erschossenen an der Mauer, Günter Liftin, erinnern. Aus dem Fenster blickt eine Schaufensterpuppe in Uniform, daneben hängt eine DDR-Fahne. Einen Anwohner störts nicht, auch wenn er "das Ding schon hässlich" fände.
Alle Etappenbeschreibungen erscheinen unter taz.de/mauer
Demps ist ein älterer Herr, sehr groß, mit weißen Haaren und dunklem Anzug. Er sitzt auf einer Bank auf der nördlichen Seite des Friedhofs. Von diesem Punkt aus kann er seinen Blick fast über das gesamte Gelände schweifen lassen. Von der Friedhofsmauer, die links von ihm steht, über die Grabsteine, von denen etliche fast im hohen Rasen versinken, bis hin zu mehreren aufwändig gestalteten Grabstätten in Richtung Kanal. Heute säumt eine Backsteinmauer in Rot und Weiß mit kleinen Türmchen die Seite zum Wasser. Selbst wer einen Blick über die Mauer und hinunter in den Kanal wagt, erhält nur einen Anflug von Ahnung, was so eine Flucht gekostet haben muss.
"Das Gelände ist verwüstet worden, besonders im hinteren Teil", erklärt Demps. Der hintere Teil lag direkt an der Mauer, heute steht hier kaum noch ein Originalstein. Von 3.000 Gräbern blieben noch 200 bis 250 übrig, schätzt er, reihenweise Bäume wurden gefällt. "Ich nehme an, die Grabsteine wurden verkauft, geschliffen und mit neuen Namen versehen", sagt Demps. Eine Systematik habe es nicht gegeben.
Demps ist nicht nur Historiker, nicht nur Wissenschaftler, er war auch DDR-Bürger. Er hat selbst miterlebt, wie Leute mit Trabis über den Friedhof fuhren, wie die Grabsteine mit der Zeit immer weniger wurden, aus dem Boden gerissen, an einen unbekannten Ort gebracht. Auf die Frage, wie er das empfunden habe, schüttelt er nur den Kopf. Erst als der Ostberliner Magistrat nach der Maueröffnung das Gelände weiter habe abräumen wollen, hätte sich in der Bevölkerung etwas geregt. "Ein paar Verrückte" hätten sich bereit erklärt zu protestieren, sagt Demps. Und ja, er selber habe auch dazu gehört. "Aber wer engagiert sich schon für so was in einer geschichtslosen Zeit."
Trotz Wachtürmen, zwei zu überwindenden Mauern und einem Kanal, trotz Patrouillen, Wachhunden und Lichtanlagen wurde auf dem Friedhof auch Fluchtgeschichte geschrieben. Der spektakulärste Fall geschah im Mai 1962. Ein Schüler gelangte bis an den Rand des Schifffahrtskanals, sprang ins Wasser und versuchte unter den Schüssen der Grenzsoldaten ans andere Ufer zu gelangen. Als sich dort mehrere Menschen, die ihn aus dem Wasser ziehen wollten, selbst unter Beschuss fanden, feuerten die Westberliner Polizisten zurück - sie töteten dabei einen auf den Jungen schießenden DDR-Soldaten und verletzten einen zweiten.
West- und ostdeutsche Presse fielen im Anschluss über die jeweils andere Seite her. Der Junge überlebte seinen Fluchtversuch als Invalide. Heute erinnert nur eine versteckte Infotafel an das Geschehen.
"Durch die Grenzziehung war der Invalidenfriedhof aus dem öffentlichen Bewusstsein herausgefallen", berichtet Laurenz Demps. Damit steht der Friedhof auch heute noch exemplarisch für das gesamte Umfeld: Spaziergänger oder Passanten sind nur selten auf der Straße zu sehen. Vor allem die Mitarbeiter des nahen Bundesministeriums für Wirtschaft nutzen den benachbarten Parkplatz, vor der Haltestelle des Bundeswehrkrankenhauses warten ein junger Mann mit bandagiertem linkem Arm und eine ältere Frau mit einer Kuchendose.
Am nördlichen Teil der Straße wird derzeit gebaut - Townhouses sollen hier entstehen, idyllisch gelegen zwischen Kanal, ehemaligem Mauerstreifen und Hubschrauberlandeplatz. Die freie Sicht auf das Ufer wird knapper.
HISTORIKER LAURENZ DEMPS
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