Berliner Kältebus hilft Obdachlosen: Der Lotse durch die Kälte
Wenn Artur Darga nachts mit dem Kältebus unterwegs ist, braucht er Geduld. Viele Wohnungslose schlafen lieber auf der Straße als in einer der Notunterkünfte.
Nachts sucht Artur Darga die Orte auf, an denen er früher lebte: Hauseingänge, Brücken, die Stufen von S-Bahn-Unterführungen und Parkbänke. "Willst du nicht mitkommen, mein Freund?", fragt er einen Mann, der unter Decken in einem Hauseingang in Charlottenburg liegt. "Nein danke", murmelt es unter dem Berg von Decken hervor. Es ist elf Uhr nachts, die Temperaturen sind auf minus acht Grad gefallen, und drei Leute aus der Nachbarschaft haben den Kältebus angerufen, weil sie Angst haben, dass der Mann auf den Stufen erfriert.
Artur Darga, ein stämmiger Mann mit zum Zopf gebundenen Haaren, weiß mit den Leuten auf der Straße umzugehen, einige kennt der 46-Jährige noch von früher. Fast die Hälfte seines bisherigen Lebens war Darga heroinsüchtig, drei Jahre hat er auf der Straße gelebt. Seit sieben Jahren ist er clean und jetzt bei der Stadtmission als Fahrer des Kältebusses angestellt. Nacht für Nacht versucht er die auf der Straße Schlafenden davon zu überzeugen, sich in die Notunterkünfte bringen zu lassen.
"Trink wenigstens einen heißen Tee", fordert Darga den Mann auf. "Nein danke, ich hatte vorhin noch einen Kaffee", sagt der und lüpft kurz seine Decke. "Komm doch mit! Dort könntest du zur Toilette gehen und im Warmen schlafen", versucht es Darga weiter. Der Deckenberg schließt sich wieder. Nichts zu machen. "Viele sind zu betrunken, um die Kälte zu merken, oder wollen keine Hilfe annehmen, weil sie sich dann eingestehen müssten, dass sie ganz unten gelandet sind", erklärt Darga.
Der Kältebus ist seit 1994 im Winter jede Nacht zwischen 21 und 3 Uhr unterwegs.
Notrufnummer:
(030)
68 08 11 07
Der Bus wird finanziert von der Stadtmission und ist Teil der Kältehilfe. Die wurde vor 20 Jahren ins Leben gerufen, getragen von beiden Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Senat. Seit diesem Jahr gibt es einen zweiten Bus des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).
Nach Angaben des DRK leben zwischen 3.000 und 4.000 Obdachlose in Berlin. 14 Notunterkünfte, die jede Nacht, und 17 Nachtcafes, die nur an einigen Wochentagen geöffnet haben, stellen zwischen 300 und 400 Schlafplätze pro Nacht bereit.
In diesem Winter sind bereits drei Menschen erfroren, und die Zahl der Hilfesuchenden hat laut Kältehilfe im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zugenommen. Die Kältehilfe fordert Senat und Bezirke auf, zusätzliche Notunterkünfte zu finanzieren.
Die Stadtmission sammelt für einen neuen Kältebus. Spendenkonto: Berliner Stadtmission, Konto 31 555 00, BLZ 100 205 00, Bank für Sozialwirtschaft, Verwendungszweck: "Kältehilfe".
Um neun ist er von der Notunterkunft der Stadtmission am Hauptbahnhof mit seinen blauen Renault-Bus losgefahren. Mit an Bord seine Golden-Retriever-Hündin Tikwa und ein Assistent, der seinen Namen nicht öffentlich machen will und deshalb für diese Nacht Philipp Häusler heißt. Ihr erster Auftrag: sechs Leute, die sich mit ihren Taschen auf die beiden hinteren Sitzreihen quetschen, zum Nachtcafé im Kreuzberger Mehringhof und zu einer Notunterkunft in Friedenau fahren, da es dort für heute Nacht noch Schlafplätze gibt. Die 60 Schlafplätze der Stadtmission teilen sich seit dem Kälteeinbruch jede Nacht 150 Menschen, sie schlafen ohne Matten auf dem Boden oder im Sitzen auf Bänken.
Darga und Häusler kommen heute Nacht nicht dazu, die Straßen abzuscannen nach Menschen mit Plastiktüten oder zu dünnen Schuhen. Während Darga den Wagen durch die verschneite Stadt fährt, nimmt sein Assistent die Anrufe entgegen. Nach zwei Stunden Dienst hat das Telefon 20-mal geklingelt. "Direkt an der U-Bahn Wittenau?", fragt Häusler und schreibt auf, dass jemand im Eingang der Commerzbank liegt. Kaum hat er aufgelegt, klingelt es wieder.
In der Bahnhofsmission am Zoo wartet Kurt auf den Kältebus. Eigentlich heißt er anders, aber alle kennen ihn und seinen Gehwagen als Kurt und Erna. Von Erna trennt sich Kurt nie, denn ohne sie kann er nicht mehr laufen. Wolfgang Gerhard hat heute Dienst und bringt ihn raus zum Bus. Der Sozialarbeiter mit langen Haaren und Nickelbrille umarmt Artur Darga, sie kennen sich seit Anfang der 90er-Jahre. Gerhard war der erste Kältebusfahrer Berlins und Artur Darga damals einer von denen, die er besucht hat. Jetzt ruft er Darga an, wenn Leute ohne Schlafplatz abends in der Bahnhofsmission sitzen, denn schlafen können sie dort nicht.
"Ist meine Erna mit an Bord?", schreit Kurt, als er im Bus sitzt. Auf dem Weg zur Stadtmission schimpft Kurt hinten über die Tumore in seiner Niere und über das "Scheißkrankenhaus", aus dem er abgehauen ist. Als der Bus über die Brücke fährt, weint er: "Hier hat sich meine Frau umgebracht". - "Hier ist das Wasser viel zu flach", scherzt Darga, der Kurt schon länger kennt. An der nächsten Brücke sagt Kurt wieder: "Hier hat sich meine Frau umgebracht."
Angekommen an der Stadtmission, weigert sich Kurt auszusteigen. "Du hast wohl Frost im Hirn, in den Saftladen hier will ich nicht", schreit er und fängt so laut an zu miauen, dass die Hündin Tikwa, die die ganze Zeit auf der Rückbank vor sich hin döst, erschrocken aufspringt. Darga und Häusler bleiben geduldig: "Kurt, was sollen wir mit dir machen? Willst du auf der Straße sterben?", fragt Darga ruhig. Nun will Kurt doch ins Krankenhaus.
Also den gleichen Weg wieder zurück zum Franziskus-Krankenhaus in Charlottenburg. Kurt darf draußen noch eine rauchen, bevor er seine mit Plastiktüten beladene Erna durch den Eingang schiebt. "Friede den Kommenden - Freude den Weilenden - Segen den Scheidenden", begrüßt sie ein Schild an der Wand. Dann verhandelt Darga mit dem Pfleger am Empfang, der Kurt ohne Versichertenkarte nicht aufnehmen will. Doch Darga lässt sich nicht abwimmeln: "Der Mann hat starke Schmerzen, den können wir nicht wieder mitnehmen." Dann findet der Pfleger Kurt in seiner Datei, sieht, dass er schon mal hier war. "So, Kurt, warte hier, die suchen jetzt die schönste Schwester für dich aus", beruhigt Darga den alten Mann.
Der Kältebus macht sich auf nach Friedrichshain. Schon zweimal an diesem Abend hat eine Frau wegen eines Mannes unter einer Brücke angerufen. Das Telefon klingelt schon wieder. Die Charité ist am anderen Ende, dort schlafen drei Männer unter der Treppe. "Fragen Sie sie erst mal, ob sie überhaupt mitwollen", sagt Philipp Häusler. Ein paar Minuten später wieder die Charité: Nein, die drei wollten nicht mit. Wie meistens. "Viele wollen auch nicht in die Notunterkünfte, weil sie da von Sozialarbeitern angesprochen werden und die ihnen raten, sich beim Bezirksamt zu melden", erklärt Darga. Das mache den meisten so viel Angst, dass sie lieber auf der Straße bleiben.
In solchen Fällen bleibt den Kältebusfahrern nichts anderes übrig, als einen heißen Tee und einen Schlafsack anzubieten. So auch dem Polen in der S-Bahn-Unterführung an der Warschauer Straße. Der Mann mit den hellen Augen in dem schmutzigen Gedicht und mit grauem Rauschebart kann kaum noch laufen, und außer "Guten Tag" spricht er kein Wort Deutsch. Auch deshalb passt Artur Darga in diesen Job: Er weiß nicht nur, wo er die Leute auf der Straße findet, als gebürtiger Pole spricht er auch die Sprache von vielen. Seit den EU-Beitritten kommen Arbeitssuchende aus Osteuropa, die meisten aus Polen. "Die finden hier keinen Job oder sind mit falschen Versprechen hergelockt worden. Auf der Straße ist es für sie immer noch besser, als zurückzugehen und ihren Stolz zu verlieren", erzählt Darga.
An der Warschauer Straße schaut er bei jeder Tour vorbei, doch auch nach Monaten kann er den Mann nicht überzeugen mitzukommen. So dreht ihm Artur eine Zigarette und unterhält sich rauchend auf Polnisch mit ihm. "Ich hab ihn so weit, dass er nach Polen zurückgehen würde, um einen Alkoholentzug zu machen", erzählt Darga später im Auto. Jetzt versucht er, in Polen eine Einrichtung für Suchtkranke zu finden.
An einer Kreuzung in Friedrichshain hält ein Streifenwagen neben dem Bus. "Kann man euch auch direkt anrufen?", fragt die Beifahrerin. Darga gibt der Polizistin die Karte der Kältehilfe. Dann endlich kommen sie zu der Brücke, wo ein junges Pärchen seit anderthalb Stunden neben einem Obdachlosen wartet. "Er schläft hier schon ein paar Monate, er kommt mit der Gesellschaft nicht klar und braucht jemanden, der ihm da raushilft", sagt sie. "Wir können ihm nur helfen, wenn er das will. Gegen seinen Willen können wir nichts tun", erklärt ihr Darga. Dann hockt er sich zu dem Mann - und kann ihn schließlich tatsächlich dazu bewegen mitzukommen.
Sie packen Decken und Tüten ins Auto. "Wie lange bist du schon auf der Straße?", fragt Darga. "Länger als ein Jahr", sagt der Mann. "Pass auf, wir könnten dich in ein Wohnheim nach Spandau bringen, da kannst du länger bleiben und morgen spricht ein Sozialarbeiter mit dir", erklärt Darga und guckt in den Rückspiegel. Schweigen. "Sollen wir das machen?", hakt Darga nach. Der Mann nickt. Also nach Spandau.
Es ist halb zwei, auf der Liste stehen noch fünf Obdachlose, wegen denen Notrufe eingegangen sind. Artur Darga und Philipp Häusler werden erst spät ins Bett kommen. Das Telefon klingelt wieder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!