Berlinale-Preisverleihung: Vergoldeter Honig
Das Wettbewerbsprogramm der Berlinale 2010 traute den Bildern nicht und setzte auf Thesenfilme. Umso erfreulicher, dass mit "Bal" trotzdem ein atmosphärisch dichtes Werk gewann.
Das Gelände ist hügelig. Eine Menschenmenge hat sich zum Volksfest versammelt. Die Kamera schaut aus der Ferne zu, registriert die Kleider und Kopftücher der Frauen als bunte Punkte vor dem hellen Grün der Grasflächen. Vor allem Frauen tanzen, fassen sich an den Händen, stampfen rhythmisch mit den Füßen und schütteln die Schultern. Andere gruppieren sich rund um Garküchen.
Die Kamera heftet sich bald an die Fersen eines kleinen Jungen, der sich zwischen den Herumstehenden und den Tänzerinnen einen Weg zu bahnen versucht. Dann wieder folgt die Kamera der Mutter des Jungen, auch sie drängelt sich durch die Menge, offensichtlich auf der Suche nach jemandem. Der Junge reicht den Tänzerinnen nur bis zur Hüfte, sie bemerken ihn gar nicht; die Menschenmenge bekommt so etwas von einem beweglichen Labyrinth. Denn wo immer der Junge einen Durchgang sieht, stellt sich ihm bald jemand in den Weg, ohne sich seiner Achtlosigkeit überhaupt bewusst zu werden.
Die Sequenz dauert eine Weile, so dass ihre verhaltene Unruhe, ihre unterdrückte Verzweiflung sich gut entfalten können. Sie entstammt dem Film "Bal" ("Honig") des türkischen Regisseurs Semih Kaplanoglu. "Bal" wurde am Samstag abend mit dem Goldenen Bären, dem Hauptpreis der Berlinale, ausgezeichnet. Die Jury unter Vorsitz des Regisseurs Werner Herzog traf damit eine nachvollziehbare Entscheidung. Denn "Bal" mag zwar ein wenig altmodisch wirken, ist aber vor allem ein dichter, in sich stimmiger Film, der die Nöte und Freuden des sechs Jahre alten Protagonisten greifbar macht, ohne sie auszubuchstabieren.
Der Vater des Jungen ist Imker, die Landschaft bergig und waldreich, die Familie wohnt auf einem kleinen Gehöft abseits vom Dorf. Der Junge stottert, wenn er in der Schule ein Märchen vorlesen soll. Einmal flüstert er seinem Vater einen Traum ins Ohr, später hilft er ihm beim Anbringen eines Bienenkorbs. Kaplanoglu schafft es, das Zusammenspiel von Landschaft, Tieren, Objekten und Menschen in atmosphärischen Bildern einzufangen, und er schafft es auch, sich auf die Kinderperspektive einzulassen. "Bal" blickt auf die Welt wie jemand, dem sie voller Rätsel ist.
Mit diesen Qualitäten stach Kaplanoglus Film aus einem Wettbewerbsprogramm heraus, in dem das Belanglose das Anregende bei weitem überwog. Das Traurige daran ist, dass dies seit Jahren so geht. Dieter Kosslick und sein Auswahlteam setzen zu oft auf den Thesenfilm statt auf den in Bildern denkenden Film, zu oft auf das Offenkundige statt auf das Subtile, zu oft auf gemütliches Arthouse statt auf herausforderndes Autorenkino. Da sie außerdem nicht das Glück haben, relevante Regisseure und Regisseurinnen dauerhaft an die Berlinale zu binden, nehmen sie mit Filmemachern vorlieb, die in und durch die Berlinale groß geworden sind - etwa mit der bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanic oder dem chinesischen Regisseur Wang Quanan. Beide haben in der Vergangenheit - jeweils überraschend - einen Goldenen Bären gewonnen, beide brachten in diesem Jahr Filme an den Potsdamer Platz, die nicht weiter der Rede wert waren.
Seltsam ist, wie gut das nach wie vor ankommt: Ein paar rote Teppiche in den Kiezen, mehr als 300.000 verkaufte Eintrittskarten, eine Open-Air-Vorführung von "Metropolis" bei minus zehn Grad am Brandenburger Tor, dazu Kosslicks Kalauer - und schon scheinen die Stadt, der Bund und die Sponsoren zufrieden.
Im Kino wird derweil gelitten - etwa in Thomas Vinterbergs "Submarino", einer Exkursion in die Unterschicht Kopenhagens. Der dänische Regisseur stellt eine Vererbungslehre der Verwahrlosung auf; alles Schlimme, was den Figuren widerfahren kann, stößt ihnen zu, vom Säuglingstod über Drogen- und Alkoholsucht bis hin zur amputierten Hand und zur erwürgten Geliebten. Guido Westerwelles offene Diffamierungen können einem lieber sein als dieses kaltherzige Schwelgen im Elend der anderen.
Kaltherzig und zynisch
Vinterberg behandelt seine Figuren mit so viel Empathie wie ein Forscher die Ratten im Labor. Oskar Roehlers "Jud Süß - Film ohne Gewissen" hat nicht mehr Fortune, wobei das Unterfangen, über die Entstehung von Veit Harlans antisemitischen Hetzfilm einen Spielfilm zu drehen, per se voller Fallstricke ist. Zwei oder drei der für Oskar Roehler so charakteristischen, maßlos durchgeknallten Szenen gibt es, der Rest besteht aus einem kruden Nebeneinander von Overacting und Farbentzug, pädagogischem Mehrwert und einer unangenehmen Berauschtheit an sich selbst - der Film strotzt vor Freude über den Mut, sich des verpönten Stoffs anzunehmen.
Addiert man dazu den zynischen Humor aus "En ganske snill mann" ("A Somewhat Gentle Man") von Hans Petter Moland oder die Gewaltexzesse aus Michael Winterbottoms uninspiriertem "The Killer Inside Me", dann helfen auch die gelungenen Filme des Wettebwerbs - zum Beispiel "Der Räuber" von Benjamin Heisenberg oder auch der rohe Antikriegsfilm "Caterpillar" von Koji Wakamatsu - nicht recht weiter.
Das Problem ist doppelt: Zum einen verzichten zu viele Filme darauf, uns irgendein Rätsel zu lassen. Es gibt zu wenige Grauzonen, zu wenig Ungesehenes; zu vieles wird umstandslos auf den Begriff gebracht. Zum anderen werden zu viele Filme eingeladen, die eher als Kommentar zu einer gesellschaftlichen Debatte funktionieren denn als Film, der für sich selber steht.
In diesem Jahr etwa ging es oft um die Frage, wie sich Muslime in einer globalisierten, mithin verwestlichten Welt zurechtfinden. "Shahada", das Regiedebüt des deutsch-afghanischen Filmemachers Burhan Qurbani, folgte drei jungen Muslimen durch das Berlin der Gegenwart; Jasmila Zbanic konfrontierte in "Na putu" ("On the Path") ihre Heldin, eine lebenslustige Frau aus Sarajewo, damit, dass sich ihr Ehemann von einem Tag auf den anderen einer Gruppe von Wahabiten anschließt. Im Panorama schickte Feo Aladags "Die Fremde" eine junge Frau aus der türkischen Community von Berlin-Kreuzberg auf einen steinigen Pfad: Die von Sibel Kekilli gespielte Heldin versucht, sich von der patriarchal organisierten Familie zu emanzipieren - mit erwartbar blutigem Ausgang.
Immer Bescheid wissen
Das Schwierige an all diesen Filme ist, dass sie, anstatt sich ihren Figuren und deren Gedankenwelten neugierig zu nähern, immer schon Bescheid wissen - ganz so, als hätten sie nicht den Mut, irgendetwas Unvertrautets in den Raum zu stellen. Sie doppeln dabei auf ungute Weise die gesellschaftliche Debatte, die zwischen festgefahrenen Positionen wenig Nuancen zulässt. Schlimm genug, wenn Henryk M. Broder, Tariq Ramadan oder Alice Schwarzer immer nur das von sich geben, was sie schon immer von sich gegeben haben; da muss es das Kino ihnen nicht gleichtun.
Es brauchte einen Bollywood-Film, um zu sehen, dass es auch anders geht: "My Name is Khan" von Karen Johar, außer Konkurrenz präsentiert, ist zwar auch ein Kino mit Botschaft und erst recht eines, das Gut und Böse glasklar voneinander trennt, aber eben auch eines mit Verve, Energie und so viel emotionalem Überschuss, dass man gar nicht erst auf den Gedanken kommt, man hätte sich, anstatt ins Kino zu gehen, besser aufs Sofa gesetzt und dort den Debattenband "Islam in Europa" studiert.
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