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■ Berlinale-AnthropologieNicht überall ist Wildeshausen

Das Verhältnis der städtischen zur Landbevölkerung ist ein höchst verzwicktes – schon gar, wenn sich die städtische die Landbevölkerung im Kino anguckt, und das auch noch während der Filmfestspiele. Handelt es sich bei der Landbevölkerung um den Indio aus Guatemala, der von den Abkömmlingen der weißen Kolonialherren malträtiert wird, zeigt sich das städtische Festspielpublikum im Kino Arsenal nur allzu bereit, seine Partei zu ergreifen und den Großen Satan USA für seine Strippenzieherei im Hintergrund zu hassen: So habe ich's vor zwei Jahren erlebt; so wird man's nächsten Sonntag um 19.30 Uhr in der Akademie der Künste wieder erleben können, wenn Nettie Wilds „A Place Called Chiapas“ läuft. Dankbar und liebevoll erkennt das städtische Festspielpublikum in dem Indio Lateinamerikas den Guten Wilden, von dessen naturgemäßer Lebensweise sich exponentiell zu entfernen der Städter, insbesondere die Städterin so gern beklagt.

Aber wie steht es mit den einheimischen Indianern? Denen aus dem Oldenburgischen beispielsweise, Renate Poggensee, Jahrgang 1945, die sich 1991 in dem schönen Eigenheim, das sie von ihren Einkünften aus dem deutschen Schlagergeschäft im heimatlichen Wildeshausen erbauen konnte, erhängt hat, nachdem auch die zweite Karriere, die sie unter dem Namen „Nancy Wood“ mit Country- music gestartet hatte, scheiterte?

Das Festspielpublikum tobte los mit Gelächter, als der Dokumentarfilmer Michael Loeken erzählte, wie Renate Poggensee und ihr Ehemann nach langem Nachdenken auf den Künstlernamen „Nancy Wood“ verfielen: Damals war in der Öffentlichkeit viel von „Nancy Reagan“ sowie von „Natalie Wood“ die Rede (Filmschauspielerin, besoffen vom Boot ins Meer gestürzt und ertrunken) – da dachten sie, das Publikum werde den Namen „Nancy Wood“ aufnehmen, als wäre er ihm schon vertraut. So sind sie, die Indios, ungeschickt. Basteln sie sich aus dem frisch importierten Jesus Christus und einem einheimischen Waldgott flink einen neuen Heiligen, bestaunen wir das fromm als ihre Kreativität – aber wenn die Indios aus dem Oldenburgischen bloß in die ZDF-Schlagerparade von Dieter „Thomas“ Heck streben...

Ich habe natürlich auch gelacht bei der Nancy-Wood-Geschichte; immer wieder gab es was zu lachen über die Schlagersängerin Renate Poggensee, die sich zunächst „Renate Kern“ nannte, das Ungeschick. Ihre Fans im Oldenburgischen beispielsweise, von denen einer innig bekannte, er habe „Re

nate Kern“ längst abgeschworen und all sein Verehrungspotential auf Vicky Leandros geworfen, während der andere mit dem archaischen Tonbandgerät ein archaisches Tonband zur Abspielung zu bringen suchte, das aber statt des Göttinnengesangs nur Quietsch- und Knarzgeräusche produzierte... Hilflos reagierten die Dokumentarfilmer Michael Loeken und Ulrike Franke auf den Vorwurf aus dem Publikum, sie hätten diese Fans bloß vorgeführt um unserer Lacher wegen. Seit dem 16. Jahrhundert, als niederländische Maler dem städtischen Publikum die Bauern mit ihrer Sauferei und ihrem Ungeschick beim Defäzieren vorführten, lacht unsereins über die einheimischen Indios. Bloß daß sie nicht mehr einfach biergefüllt vom Hocker fallen, sondern bei Dieter „Thomas“ Heck in der ZDF-Schlagerparade „Alle Blumen brauchen Sonne“ trällern (respektive „Regen“: „Ohne Regen gäb's nur Steine“).

Der englische Philosoph John Stuart Mill, im 19. Jahrhundert einer der Kirchenväter des Liberalismus, behauptet, die moderne Welt habe noch lange das moralische Niveau des spätantiken Rom nicht wieder erreicht. Die Stoiker hätten Renate Poggensee respektive „Renate Kern“ respektive „Nancy Wood“ für ihren Selbstmord gepriesen; wer möchte mit 40 das sich kontinuierlich betrinkende Publikum auf einer Skandinavien-Fähre ansingen, das wegen des Alkohols immer weniger auffaßt? In der Antike traute man einem solchen Selbstmord zu, daß er Würde und Souveränität der Person wiederherstelle. Wir sind da nicht so gut: Es hat lange gedauert, bis wir Stammheim glaubten. Erinnern Sie sich an Pierre Bérégovoy? – Auch das Festspielpublikum, das sich die traurige Geschichte von Renate Poggensee mit großer Anteilnahme hatte erzählen lassen, hätte sie am liebsten ans Therapeutenpack verwiesen.

Der Indio, die Landbevölkerung inkliniert zum Schicksalsglauben; es kommt, wie es kommt. Bewunderungswürdig, mit welcher Energie Renate Poggensee sich bei ihren beiden mißlingenden Karrieren immer wieder mittels einfacher Maximen Mut zu machen suchte („Ohne Regen gäb's nur Steine“). Sie konnte nichts dafür, daß der deutsche Schlager in den Sechzigern und Siebzigern ohne Zukunft war. Gut gemerkt habe ich mir den Diskutanten, der ihr außerordentliches Stimmpotential lobte; wie schlecht sie beraten gewesen sei, wie schlecht auch die Musik arrangiert: Man hätte was aus ihr machen können. Dem Schicksal, weiß der Städter, entkommt man nur durch Bildung. Michael Rutschky

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