■ Berlinale-Anthropologie: Zeitkalkulatoren und Rumtreiber
...Eigentlich könnte ich um 14 Uhr den Kinderfilm in der Urania kontrollieren. Da war ich noch nie richtig, da schaut es bekanntlich wie nach Kindertagesstätte aus, gleichzeitig Arbeiterbildungsverein.
Der Berlinale-Besucher ist anhaltend mit komplizierten Zeitkalkulationen beschäftigt. Manche – ich habe es beobachtet – legen sich richtige Stundenpläne an, wie in der Schule; wo sie wann sein müssen. Wo sie wann vorzeitig rausmüssen, um rechtzeitig den Anfang des nächsten Films im Delphi-Palast (oder wo immer) mitzukriegen: Solche Kalkulationen beglücken den Berlinale-Laien, weil sie Überfluß anzeigen, Schlaraffenland. Nicht nur, daß genug da ist zum Schauen, es ist viel, viel mehr als genug – selbst bei sorgfältigster Planung kriegst du nicht alles mit.
Der Berlinale-Profi dagegen hat demonstrativ unter dem Schlaraffenland zu leiden. „Ich geh' jetzt ins Hotel“, wird nachher, nach der Pressekonferenz, Babette, Filmkritikerin aus Hamburg, demonstrativ seufzen, „und versuche, ein bißchen was zu schreiben. Und um 18 Uhr muß ich in den Royal Palast, ,The Boys‘. Ist schon hart.“ Wäre Babette ein Mann, ich könnte behaupten, sie sei seit Tagen unrasiert, „so schreibt sich die Berlinale in den Körper ein“.
Auch wie ich jetzt an der Urania mit dem Bus vorbeifahre, statt auszusteigen und „Ms Bear“ von Paul Ziller anzuschauen, auch diese Entscheidung verdankt sich einer solchen Zeitkalkulation: Ich möchte eine Pressekonferenz im Pressezentrum beschreiben, die vermutlich um 14.15 Uhr anfängt. Falls keine stattfindet, falls eine stattfindet, die mich überhaupt kein kleines bißchen interessiert, kann ich immer noch rechtzeitig mit der U-Bahn in die Akademie der Künste gelangen, der neue Rudolf Thome, „stark schweinös“, wie Babette behauptet. Oder wandere ich besser ins Kino Arsenal, wo es „Tano da morire“ gibt, was auch immer das heißt? Zeit genug hätte ich jedenfalls...
Die Pressekonferenz beginnt erst um 14.45 Uhr. Zeit genug, den Mantel an der Garderobe abzugeben – nein, kostet nichts, versichert herzlich ein Brillenschlänglein –, Zeit für einen Drink an der Bar (die bekanntlich nie und nimmer die Paris Bar als Thing-Platz der Berlinale ablösen wird: dabei meine ich den einfachen Tresen gleich rechts, wenn Sie durch den DDR-haften Glasflur reinkommen; die Zentral-Bar des Interconti, genannt „Marlene“, hat sich schon durch diese eklige Ranschmeiße beim Kinogeher um jede Chance gebracht). Dort drüben wird in der Sitz
gruppe unter Kunstlicht vor der TV-Kamera ein Interview veranstaltet, der rotblonde Mann schaut dem Hamburger Schriftsteller Frank Keil ähnlich (wie ich notiere). Es macht Spaß, Bekannte, womöglich Berühmtheiten zu identifizieren, die keine sind. So wirst natürlich auch du gemustert, „muß ich den kennen?“ Von der Dame in Schwarz beispielsweise, die ebenfalls an der Bar sitzt und zum Minirock „blickdichte“ Strümpfe trägt, ganz wie es Frau Prof. Jacobi für die Frau ab 40 vorschreibt. (Ich habe nicht notiert, was die Frau in Schwarz als Drink verzehrte.)
Die drei Herren, die rechts neben mir auf ihren Barhockern hocken, gehören, da bin ich vollkommen sicher, weder zum technischen noch zum künstlerischen Personal. Ihre Sakkos, Hemden, Schlipse verraten sie, schon gar ihre Frisuren (gemäßigt, gescheitelt): Kein noch so verwegener Regisseur, Kameramann, Cutter oder Produzent würde sich derart ins Kleinkarierte wagen, ein Wagnis, das für die drei Herren natürlich keins ist, sondern schierer Konformismus. „Das sind die Leute vom kaufmännischen Personal“, notiere ich, „Filmkaufleute“. Und jetzt sind sie dabei, mich zu verblüffen.
Ihnen wird nämlich vom Barmann, einem bretterdünnen „Spuchtfink“ (Babette) namens Andreas Rauh, Essen serviert: Drei Teller stellt er vor sie auf den Tresen der Bar, und ein jeder enthält (kann man das sagen? der Teller „enthält“?) neben der Portion Pommes frites und dem Porzellanschälchen mit Tomatenketchup einen Hamburger von ordentlicher Größe. „Drei Filmkaufleute verzehren an der Bar des Interconti zum Lunch drei Riesenhamburger mit Fritten.“ Keinen Film kann ich mir vorstellen, worin Regisseur, Kameramann, Drehbuchautor an der Bar ihres Berliner Hotels Riesenhamburger mit Fritten mampfen (man erinnere sich an die ekligen Eiweiß-Omelettes mit gebratenen Schalotten, die Danny de Vito in „Get Shorty“ ordert; dazu Erdbeer-Frappé – bei den Filmkaufleuten zweimal Wasser, einmal Bier).
Die Pressekonferenz handelt von Michael Winterbottom, „I Want You“. Der Anthropologe Ziegler stellt viele präzise Fragen, die merkwürdigerweise das journalistische Personal gegen ihn aufbringen. Wie wurden die Sexszenen gedreht, denen der 14jährige lauscht? In seiner Anwesenheit? Wird er – im Film: ein Flüchtling aus Bosnien – sich ein Leben in Großbritannien aufbauen?
Aber keineswegs. Er besucht in Zagreb das Gymnasium und wird dort sein Abitur machen. Michael Rutschky
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