Berlin und Breslau: Ein Grund zum Strahlen
Breslau hat als Europas Kulturhauptstadt 2016 auch auf Berlin einen besonderen Reiz ausgeübt. Nun muss sich zeigen, was in Zukunft davon bleibt
Nicht nur für Maren Ade und ihren Film „Toni Erdmann“ ging die Verleihung des Europäischen Filmpreises am Wochenende in Breslau glücklich aus, sondern auch für Rafał Dutkiewicz. Der Stadtpräsident Breslaus hatte schon vor drei Jahren nachgefragt, ob die Preisverleihung nicht in Europas Kulturhauptstadt 2016 vergeben werden könnte. Wim Wenders, Präsident der Europäischen Filmakademie, sagte zu – und Dutkiewicz führte ihn selbst durch die polnische Odermetropole. Eine von vielen Begegnungen zwischen Berlin und Breslau im zu Ende gehenden Jahr.
Berlin und Breslau, obwohl offiziell nicht Partnerstädte, sind sich in diesem Jahr so nahe gekommen wie seit dem Fall der Mauer nicht. Vor allem die Berlinerinnen und Berliner haben die Gelegenheit zu einer Visite genutzt. Der Kulturzug hatte mehr als 20.000 Fahrgäste, ein Vielfaches von dem, was erwartet wurde. Nun fährt er bis Ende kommenden Jahres.
Näher gekommen sind sich beide Städte auch mit „Luneta“, auf Deutsch „Fernrohr“. In den blauen Zelten am Bahnhof Friedrichstraße und am Bahnhof Wrocław Główny ließ sich in Echtzeit miteinander kommunizieren. Hinzu kamen Clubnächte und Ausstellungen, in einem Buch wurde die Beziehungsgeschichte beider Städte von deutschen und polnischen Autoren thematisiert. Dabei wurde aber auch deutlich, dass es viel nachzuholen gibt. Die Breslauer kannten Berlin schon vor 2016, die Berliner mussten Breslau erst kennenlernen.
Was aber bleibt von diesem Jahr der grenzüberschreitenden Begegnungen? Breslau selbst hat den Zugang zur Kultur auch für benachteiligte Schichten zum Ziel gemacht. Eine Bilanz steht da noch aus.
„Ich hoffe sehr, dass sich durch die Zusammenarbeit nachhaltig gute Verbindungen ergeben“, hofft Moritz von Dülmen, der Chef der Berliner Kulturprojekte. Eines ist schon passiert. In Breslau soll auf die Initiative des Stadtpräsidenten ein gemeinsames Büro für die europäischen Kulturhauptstädte gegründet werden – und einen europäischen Erfahrungsaustausch ermöglichen.
Rafał Dutkiewicz: Unsere Zukunft gehört Europa
„Die Europäische Kulturhauptstadt ist ein riesiger Erfolg geworden, auch wegen der guten Zusammenarbeit mit Berlin. Ich bin nicht nur zufrieden, was die Anzahl der Touristen betrifft, die von Berlin nach Breslau kamen, sondern auch mit der Werbung für Breslau in Berlin.
Es gibt einige Projekte, die auch im nächsten Jahr weitergehen. Ich werde im Januar in Berlin sein, und dann werden wir sehen, was da an weiterer Zusammenarbeit möglich ist. Das wichtige ist, das sich jetzt die Menschen und Institutionen in beiden Städten kennen.
Ob Breslau das andere Gesicht Polens war in diesem Jahr? Die Botschaft, die wir in diesem Jahr verbreiten wollten, kam von einem Breslauer. Es war der Bischof Kominek, der schon 1965 gesagt hat: Nationalismus ist das Konzept von gestern. Unsere Zukunft gehört Europa.“
Rafał Dutkiewicz ist Stadtpräsident von Breslau
Oliver Spatz: Das war ein großes Wunder
„Das Jahr mit der Kulturhauptstadt Wrocław und dem Kulturzug war für mich ein großes Wunder. Ich habe ein echtes Gefühl für Zusammenhalt gespürt, ein „Jetzt erst recht“ und „Weiter so“ für ein vielfältiges Europa ohne Grenzen.
Manchmal habe ich die Polen um diese fröhliche und unkomplizierte Stadtkultur beneidet. Jung und Alt, Tag und Nacht auf den Straßen und Plätzen. Mir hat das Jahr Lust gemacht, das Land, die Menschen und die Sprache besser zu verstehen.
Der Kulturzug hatte insgesamt über 20.000 Fahrgäste. Einige mussten manchmal über vier Stunden stehen, haben in den Gängen gepicknickt und jede noch so verrückte Kunstaktion und die über 200 Lesungen und Konzerte dankbar aufgenommen. Vielleicht braucht es viel mehr solcher Kulturzüge in Europa.“
Oliver Spatz ist der Kurator des Kulturzugs
Marko Martin: Nächtliche Saufgespräche
„Ich habe die Stadt als erfreulich offen empfunden – trotz der an Wochenenden herumvagabundierenden kahlköpfigen Jungmännermeuten, die mitunter ihren Hass auf die EU, auf Juden und Frau Merkel herausbrüllten.
Interessant war der Aufenthalt deshalb, weil ich aus der Blase ethnisch und sozial homogener Stipendiaten herausflutschen konnte. Die habe ich als extrem unpolitische Laptop-Hipster wahrgenommen. Deshalb waren die mitternächtlichen Saufgespräche in dem Kit-Kat-ähnlichen Cactus Club viel inspirierender als die Besuche bei den Verantwortlichen des Kulturprogramms.
Schaffen es beide Städte, weiterhin eine Gestimmtheit auszustrahlen, die nichtnationalistisch ist und das Heterogene und Vermischte historischer Erfahrung ohne Relativierungen annimmt? Ich hoffe es sehr.“
Marko Martin war 2016 Stadtschreiber in Breslau
Volker Hassemer: Eine neue Zuneigung
„Wir können stolz sein, dass wir alles, was wir uns vorgenommen haben, realisieren konnten.
Zwei Ergebnisse sind mir besonders wichtig: Es hat eine neue Aufmerksamkeit, eine neue Zuneigung, eine neue Nähe zwischen Berlin und Breslau stattgefunden. Der Kulturzug ist der konkrete Beweis. Er hätte aber nicht funktionieren können, hätten nicht die Strahlkraft von Breslau einerseits und das Interesse der Berlinerinnen und Berliner andererseits gegriffen.
Und wir haben dem Stadtpräsidenten wesentlich dabei geholfen, sein – zurzeit in Polen nicht einfaches – Ziel zu verfolgen: Breslau als eine „europäische Stadt“ zu etablieren. Und dabei nicht gegen das Polnische, aber selbstbewusst und stolz im Reigen der europäischen Städte aufzutreten. In diesem Jahr war spürbar Europa in Breslau zu Hause.“
Volker Hassemer ist Chef der Stiftung Zukunft Berlin
Mateusz Hartwich: Her mit einem Zukunftsfonds
„Zwei Kulturstädte in der Mitte Europas haben ihre familiären Bande wiederentdeckt. Was banal klingt, ist in heutigen Zeiten eine große Errungenschaft.
Dass Berlin die Insel der Stabilität und Breslau die Insel des Europagedankens in Polen bleibt, ist alles andere als selbstverständlich. Es gilt deshalb, ein Zeichen für die Zukunft zu setzen, mit Blick auf die gemeinsame Geschichte. Beide Städte sollten ein nachhaltiges Austauschprogramm auflegen, einen Zukunftsfonds, mit dem Künstler, Autoren, Aktivisten, aber auch einfachen Bürgern das Eintauchen in den Alltag der Schwesterstadt ermöglicht wird – ohne die Verpflichtung, die deutsch-polnische Zusammenarbeit zu bejubeln.
Das wäre der Triumph des europäischen Miteinanders über die (Un-)Kultur der nationalen Abschottung.“
Mateusz Hartwich ist Co-Herausgeber des Buches „Berlin und Breslau. Eine Beziehungsgeschichte“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind