Berlin nach dem 1. Mai: „Wir müssen über Abrüstung reden“
Die Hauptstadt am 1. Mai mit Polizei zuzustellen, damit ja nichts anbrennt, mache keinen Sinn mehr, sagt Linkenpolitiker Niklas Schrader.
taz: Herr Schrader, wie lange beobachten Sie die 1. Mai-Festspiele in Berlin inzwischen?
Niklas Schrader: Ich glaube, ich habe seit 15 Jahren keinen 1. Mai verpasst. Es gibt nicht viele im Abgeordnetenhaus, die schon so lange dabei sind wie ich (lacht).
Wie fällt Ihre diesjährige Bewertung aus?
In den letzten Jahren gab es eine ganz klare Tendenz zu immer weniger Gewalt. Inzwischen gibt es überhaupt keine Gewalt mehr. Die Zeiten der ritualisierten Krawalle sind einfach vorbei. Mittlerweile ist das eine gesicherte Erkenntnis.
Bei den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern scheint das noch nicht angekommen zu sein, oder täuscht das?
Nein. Das Ritual, die Gewalt im Vorfeld heraufzubeschwören, hält leider an. Offensichtlich brauchen einige dieses Thema, um sich zu profilieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Innensenatorin Iris Spranger hat im Vorfeld den Einsatz des Wasserwerfers ins Spiel gebracht. Auch sonst hat sie alles andere als zurückhaltend kommuniziert. Sie hat sich extrem darüber aufgeregt, dass das Myfest in Kreuzberg nicht stattfindet. Dabei hat ihre eigene Polizei schon vor längerer Zeit festgestellt, dass dieses Myfest keinerlei Auswirkungen auf die Einsatzlage hat.
Wie beurteilen Sie diese Geschichte vom Fund eines angeblichen Steindepots auf Dächern, die am Abend des 1. Mai von der Polizei verbreitet wurde?
Das ist alles sehr verwunderlich. Hinterher ist die Polizei zurückgerudert. Im Sinne von, das waren wohl doch nur Überbleibsel von Baustellen, die sie nicht im Blick hatten.
Glauben Sie das? Vom Polizeihubschrauber aus wurden doch ständig Übersichtsaufnahmen gemacht.
Ich glaube, die allgemeine Nervosität und Prophezeiung von Gewalt hat einen Beitrag dazu geleistet, dass das gleich als Steindepot interpretiert wurde. Fälschlicherweise. Diesen Vorwurf kann man der Polizei durchaus machen, dass sie das nicht seriös abgeprüft hat, bevor sie damit an die Öffentlichkeit geht. Das hat natürlich auch eine anheizende Wirkung.
In einer Live-Sondersendung des RBB wurde am Abend des 1. Mai wiederholt vom Fund eines Steindepots berichtet.
Natürlich. Das verbreitet sich weiter, auch rechte Medien und rechte Akteure nehmen das gerne auf. Die Polizei hat in ihrer Kommunikation eine sehr große Verantwortung. Der ist sie in dem Fall nicht gerecht geworden.
Was für ein Fazit ziehen Sie mit Blick auf den diesjährigen 1. Mai?
Ich fordere Abrüstung. Vor allem eine personelle Abrüstung. Wir haben seit Jahren über 6000 Einsatzkräfte hier in Berlin am 1. Mai. Ich bin mir sicher, dass ein Großteil der Beamten viele Stunden nur rumsteht. Die einzige Aufgabe ist, im Fall der Fälle bereit zu sein einzugreifen. Das brauchen wir nicht mehr. Wir müssen ganz dringend über weniger Polizei am 1. Mai reden.
Sie haben das schon früher gefordert. Wie waren die Reaktionen aus dem politischen Raum?
Die politisch Verantwortlichen verweisen gerne auf die Polizei, deren Aufgabe es sei, eine Gefährdungsbewertung abzugeben. Dabei hat die Politik eine Mitverantwortung auch, indem sie der Polizei eine bestimmte Richtung vorgibt. Diese Richtung ist offenbar immer noch maximale Personalstärke. Aber weil der friedliche 1. Mai kein einmaliges Phänomen ist, müssen wir das endlich hinterfragen. Die ganze Stadt mit Polizei zuzustellen, damit ja nichts anbrennt, steht nicht mehr im Verhältnis zu den Ressourcen. Außerdem wäre Abrüstung auch ein guter Beitrag, die Arbeitsbedingungen der Polizei zu verbessern. An diesem Feiertag keine Überstunden mehr leisten zu müssen, wäre auch im Interesse der Polizeikräfte.
Um vielleicht auch den Grill und einen Joint anzünden zu können?
Ja (lacht). Das ist eine schöne Vorstellung.
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