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Berlin, du wirkliche, du scheußliche...

■ Nein, ein ruhiges Berlin mit Biotopen am Potsdamer Platz wird es nicht gegen, und auch kein schönes. Aber dafür ein ob seiner Wirklichkeit faszinierendes: eine Hauptstadt, die viele Stimmen aus...

Nein, ein ruhiges Berlin mit Biotopen am Potsdamer Platz wird es nicht geben, und auch kein schönes. Aber dafür ein ob seiner Wirklichkeit faszinierendes: eine Hauptstadt, die viele Stimmen aus Ost und West wie ein Verstärker bündelt und ausstrahlt.

Von Barbara Sichtermann

A

uch Bielefeld ist wirklich. Cuxhaven existiert, desgleichen Köln oder Naumburg. Und doch gibt es verschiedene Grade, bis zu denen sich in einer Stadt die Krisen und Konvulsionen ihrer Zeit verdichten, mithin „Wirklichkeit“ sie aufschreckt und umpflügt. In Bielefeld, unterstelle ich, kommen die Um- und Aufbrüche der letzten Jahre nur als Zeitungsmeldungen und Gesprächsstoff vor, vielleicht noch in Gestalt einiger unwillkommener Zuwanderer und einer Podiumsdiskussion an der Universität. Das wär's dann.

Naumburg hat schon mehr Wechselfälle durchzustehen. Neue Touristenschwärme und ein bedrohliches Gemurmel über Grundstückspreise und Mietnebenkosten drücken auf die Dächer. Aber das Staatsbild ist fürs erste gut wiederzuerkennen, und manchem Arbeitslosen geht der Wandel gar zu langsam. Über Köln und Cuxhaven schließlich brauchen wir nicht viele Worte zu machen. Die Gnade der westlichen Topographie hält diese Städte gesund. Der Preis jedoch: ein minderer Grad von Wirklichkeit — im Stadtgespräch, im Menschengewimmel, im Häuserdschungel. Da bleibt was stehen. Die Zeit ist nicht überall gleich schnell, und sie ist nicht überall gleich voll. Ihre gesammelte Kraft zur Neuerung hat sie, die Zeit — oder meinetwegen die Geschichte — über Berlin ausgegossen, für die Provinz bleibt kaum was übrig.

Aus diesem Grunde hätten manche das deutsche Parlament lieber in Bonn belassen, denn es politisiert sich doch besser aus der Ruhe heraus... Dagegen stand die Ansicht, daß die erste Gewalt da amtieren müsse, wo es verschärft zur Sache geht, und die hat sich durchgesetzt. Berlin also wird nicht nur die Wiedervereinigung exemplarisch durchbuchstabieren, es wird auch noch die offizielle Bühne für die deutsche und die europäische Politik ausrichten müssen, es wird boomen, blühen, explodieren. Was will man mehr? Die Alternative Liste und das Bonner Establishment wollten weniger: ein ruhiges Berlin ohne Regierungszirkus und mit Biotopen am neu zu schaffenden Potsdamer Platz. Sie haben nicht begriffen, daß mit dem bürokratischen Größenwahn Ost-Berlins auch die surreale Beschaulichkeit West-Berlins auf Nimmerwiedersehen in der Gruft des Ost- West-Konflikts verschwinden wird und daß es unmöglich ist, aus Ganz-Berlin eine Art Überprovinz ohne Autos, Hochhäuser und Großflughafen zu machen.

Auch ohne Regierung wäre Berlin zu einem neuen Babylon herangewuchert, aber mit den höchsten deutschen Verfassungsorganen wird diese Stadt Politik nicht nur über sich ergehen lassen, sondern selbst machen. Wir erwarten von Berlin die erste deutsche Metropole, deren Wachstum und Wirtschaftskraft, Farbigkeit und Frivolität, Multikultur und Szenenvielfalt endlich stark genug sein werden, die deutsche Tendenz zu Ruhe, Ordnung und Sicherheit wirksam und nachhaltig zu konterkarieren.

Die Bedingungen sind da. Berlin ist heute in Deutschland — vielleicht in ganz Europa — die Stadt mit dem höchsten Wirklichkeitsgrad. Sie hielt einst den Ost- West-Gegensatz in sich aus — aber man konnte diesen Gegensatz nicht mit einem Blick umfangen, denn man war immer entweder in Ost- oder West-Berlin. Heute treffen und mischen sich die von den beiden gegensätzlichen „Systemen“ geformten Menschen, ihre Blicke, Anschauungen, Ziele, Sprachen. Viele zögern noch, aber mehr sind unterwegs, erkunden die jeweils andere Stadthälfte und sorgen mit diesen Schritten für das Einswerden Berlins. Der Marzahner, der nach Charlottenburg fährt, um dort einzukaufen, die Steglitzerin, die nach Lichtenberg zieht, weil sie da eine billige Bleibe findet, der Musikfreund aus Dahlem, der abends am Gendarmenmarkt Schlange steht, um Schostakowitschs „Leningrader“ zu hören, die Studentin aus Köpenick, die sich an der Lankwitzer PH einschreibt, die Wilmersdorfer Witwe, die jeden Sonntag mit dem 100er Bus Richtung Alex fährt und im Operncafé frühstückt, da, wo sie einst beinah ihren ersten Kuß gekriegt hätte, der Techniker aus Babelsberg, der sich auf eine Stelle in Tegel bewirbt — sie alle machen Berlin ganz.

Daß dieser Prozeß lange dauert, daß er schwierig ist, daß er Opfer kostet und Animositäten schürt, daß die Politiker „gefordert“ sind, abzufedern und auszugleichen, das versteht sich fast von selbst. Doch wie enorm ist der Gewinn! Da liegst du, Berlin, du wirkliche, kannst es kaum fassen, daß die Mauer weg ist, die auf deinem Geist gelastet hat wie ein Grabstein, atmest durch und läßt sie auf alle los in deinen Straßen und Kiezen, die Mächte, die für Näherungen und Abstoßungen, Gründungen und Pleiten, Neugierden und Ängste, Hochzeiten und Feindschaften zwischen Osten und Westen sorgen. Berlin ist die Probe auf die Wiedervereinigung. Und in gewissem Sinn auch auf Europa. Sehr treffend sagte vormals Walter Momper, Berlin stehe für die Einsicht, daß Deutschland wieder einen Osten habe.

Vielen mag er nicht behagen, dieser Osten, aber er ist vorhanden, macht sein Maul auf, will Mitsprache und Zuschüsse. Irgend jemand muß anders als nur mit Pflichtgefühl, muß mit wirklichem Interesse auf diese Ansprüche antworten. Wer wäre dazu besser geeignet als ein lebensvolles, ruheloses, boomendes Berlin? Die Stadt selbst war immer schon nicht bloß preußisch, sondern auch „östlich“, war Fluchtpunkt für Zuwanderer, Gäste und Durchreisende aus Polen, Rußland und dem Baltikum. Auf der Friedrichstraße, auf dem Ku'damm konnte man in den zwanziger Jahren schöne Polinnen sehen, russisch sprechen hören und dem jüdischen Genius begegnen. Das ist vorbei, weder West-Berlin noch die Hauptstadt der DDR haben diesen Reichtum zurückholen können. Aber jetzt ist die Chance wieder da.

Angesteckt von einem nach Osten offenen Berlin, könnten die fünf neuen Länder, diese eingeschlafenen Provinzen mit ihren unterm Staub einer unsäglichen Bürokratie verschütteten Baujuwelen und regionalen Profilen, sich gleichsam zurückmelden im europäischen Konzert und Wettbewerb der Zungen, der Stile und der Geschäftsideen. Berlins Stärke wird — wenn es denn wieder eine entwickelt — im Spirituellen wurzeln. Es wird den Fatalismus und die Herzlichkeit der Russen ebenso in die Skala der europäischen Eigenarten eintragen wie das Rebellentum und die Frömmigkeit der Polen — und die Sinnlichkeit und Intelligenz der Juden, wenn letztere denn das östliche Gomorrha ihrer Wiedereinwanderung für würdig erachten.

Auch die Brandenburger und die Sachsen haben vielleicht der Welt was zu sagen — sie waren geknebelt, zum Schweigen gebracht von derselben kommunistischen Erziehungsdiktatur, die den ganzen europäischen Osten und das halbe Berlin an der Entfaltung ihrer Eigenarten gewaltsam gehindert hat. Diese jetzt wieder sich räuspernden regionalen, nationalen, individuellen Stimmen könnte Berlin wie ein Verstärker bündeln und ausstrahlen, wie ein Dolmetscher transponieren und erläutern, wie ein Medium beschwören und zur Durchdringung bringen. Das wäre sein Beitrag zur Europäisierung des Ostens und für die Einladung an Westeuropa, den Osten zu mögen.

Denn sonst hat Berlin — abgesehen von seinen wirtschaftlichen Potenzen, die mit seinen spirituellen verschränkt sein werden — nicht viel zu bieten. Anders als die magnetischen europäischen Metropolen, deren Namen Bilder von mächtiger Schönheit heraufbeschwören — London, Paris, Kopenhagen, Rom, Wien, Prag — ist Berlin zu jung, zu unschön, zu gründlich zerstört auch, um schon durch seinen Anblick zu bestechen. Berlin entbehrt der Würde, die das Alter schenkt und die bei Städten immer reizvoll ist. Das kleine graue Erfurt ist zum Beispiel weit schöner als Berlin, weil es historische Tiefendimensionen aufweist. Der Zauber einer Stadt hängt von ihrem Alter ab, von den Jahres- und Jahrhundertringen, die eine Spannung zwischen den Epochen erzeugen und als Weichbild gleichsam in Vibration versetzen. Berlin hat keinen mittelalterlichen Kern — die 750-Jahr-Feier war ein Etikettenschwindel —, seine barocken Reste sind versprengt und ohne Beziehung zum eigentlichen Stadtkörper.

Dieser Körper ist ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts, und er hat sich einst in seiner präpotenten, zu schnell gewachsenen Jugendlichkeit hoch aufgereckt. Das „Dritte Reich“ hat ihn wohl eher ausgenutzt, als daß er es seinerseits (mit)hervorgebracht hätte — und doch ist er für dessen Amoklauf fast zu Tode geprügelt worden. Das sieht man immer noch. Wer mit offenen Augen durch diese Stadt läuft, entdeckt so schnell nichts Liebliches, auch nichs Herrliches und fast nichts Ehrwürdiges. Es gibt (verborgene) Reize — die Parks, die Schlösser,die Friedenauer Wohnstraßen, die Charlottenburger Spreebögen, die Friedrichshagener Weberhäuschen und die Pfaueninsel zum Beispiel — aber die berühren einander nicht und können nicht als typisch gelten für das Gesicht der Stadt.

Ein von Stadtschönheit verwöhnter Besucher muß das Gesicht Berlins scheußlich finden. Bleibt er länger, entdeckt er, daß der geprügelte, zerschnittene, wieder hochgepflegte und jetzt zum Zusammenwachsen freigegebene Stadtkörper grade aufgrund der Qualen, die er ausgestanden hat, außerordentlich beredt ist. Alle großen Metropolen zehren als Attraktionen von ihrer Geschichte, sind aufregend, insofern sie lebende Museen sind, Stätten, an denen sich etwas ereignete und die davon — oft mit erhabenen Gesten — zu erzählen wissen. Manche Städte predigen, andere plaudern oder singen. Berlin hat lange geschrien und geseufzt und wird jetzt anfangen, in festem Ton zu berichten — und zu prophezeien: nüchtern, materialreich, konzentriert. Es wird davon nicht schöner werden, es wird nie schön sein. Aber faszinierend ob seiner „Wirklichkeit“, denn es gibt wenig in Berlin, was zum Träumen und Ausweichen einlädt.

Worauf die Sonntagsredner immer pochen: daß man die Schrecken der jüngeren Vergangenheit nicht vergessen dürfe, das braucht man in Berlin nicht anzunehmen, weil man von Zeugnissen dieser Schrecken auf jedem Quadratkilometer umstellt ist. Es kommen nunmehr die Schrecken der Zukunft hinzu, die Umbrüche im Osten, die gewiß nicht so grausig sein werden wie die der Vergangenheit, aber hart genug. Auch sie werden über Berlin hinweg- und durch Berlin hindurchgehen und es beuteln, drangsalieren und bereichern. Vielleicht wird es dann wieder schreien, aber diesmal nicht in Agonie, sondern nur in der Not des Überfordertseins: weil die Zeit zu schnell und zu voll ist. Diese Not ist das Los einer jeden Metropole, ihre Kehrseite ist die schöpferische Energie, die auch im nächsten Jahrtausend das urbane Leben nähren wird und die um so höher schäumt, je „wirklicher“ eine Stadt ist.

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