Berlin, Paris und Luckenwalde

„Der Wald kommt“: Das neu gegründete Volkstheater Luckenwalde probt den Macbeth in der Provinz  ■ Von Kolja Mensing

Der Luckenwalder Bahnhof begrüßt uns mit einem Bilderbuch- Skinhead. Er trägt Springerstiefel, reißt sich eine Dose Bier auf und guckt ziemlich gefrustet und arbeitslos. Am Bahnhofskiosk werden Langhaarige mißtrauisch angestarrt. Es gibt eine Trabi-Gedenkkneipe, und die traurige Fußgängerzone in Luckenwalde heißt tatsächlich „Boulevard“. Bestätigung auf ganzer Linie: So stellt sich der Westleser eine Kleinstadt in Brandenburg vor.

Vom Boulevard zweigt die Parkstraße ab. Hier hat das frisch gegründete „Volkstheater Lukkenwalde“ zwei Etagen in einem Altbau bezogen. Ein paar Matratzen liegen auf dem Fußboden, dazwischen hier und da ein Reclam- Heft. Einige Schauspieler belagern die kleine, aber immerhin gut beheizte Küche. An den Fenstern hängen schlichte Plakate mit kryptischen Parolen aus Shakespeares „Macbeth“: „Der Wald kommt“, und: „denn wahrlich, wir sind zu jung nur“. Zum zweitenmal werden alle Vorurteile und Erwartungen bestätigt. So stellt man sich das wahre Theaterleben vor: Kunst, Kollektiv und Provokation, dazu billiger Rotwein.

Thorsten Weckherlin, der Leiter des Volkstheaters, führt durch die Wohnräume: „Badezimmer gibt es nicht. Wir duschen im Theater.“ Seine „Intendanz“, in der er arbeitet und schläft, befindet sich im unteren der beiden Stockwerke und unterscheidet sich von den restlichen Zimmern nur dadurch, daß es einen Computer und ein Telefon gibt. Und einen Gebührenzähler, weil hier die ganze achtzehnköpfige Theatergroßfamilie telefoniert.

Weckherlin kommt ursprünglich aus Hamburg, hat eine Wohnung in Berlin. Aber er kennt die Provinz, wenn er auch in Städten wie Luckenwalde bisher nur in Hotelzimmern gewohnt hat. Zwei Jahre lang ist der ehemalige Assistent von Starregisseur Peter Zadek mit dem Tourneetheater des Berliner Ensembles durch die Kleinstädte Brandenburgs gezogen. Im vergangenen Sommer ging dem BE das Geld aus, das Tourneetheater wurde geschlossen. Weckherlin gründete mit zwei Kollegen, der Regisseurin und Autorin Anna Langhoff und dem Schauspieler Christian Suhr, das Volkstheater, um eine eigene Produktion in Angriff zu nehmen. Shakespeares „Macbeth“. In Lukkenwalde.

Die drei kannten die Stadt. Hier hatte das Tourneetheater Anna Langhoffs Stück über einen ostdeutschen Frauenmörder uraufgeführt: „Schmidt Deutschland Der Rosa Riese“. Außerdem gibt es ein wunderschönes, kaum benutztes Theater, in den zwanziger Jahren im Bauhausstil erbaut und vor einigen Jahren originalgetreu renoviert. Heute treten auf der Bühne Costa Cordalis und das Orchester der Kreismusikschule auf. „Lukkenwalde hat ein Theater, aber kein Ensemble“, erzählt Thorsten Weckherlin, „und wir sind ein Ensemble ohne Theater. Was lag näher, als uns mit dem Volkstheater hier niederzulassen?“

Finanziell hatte das Volkstheater Glück. Brandenburgs Kulturminister Stefan Reiche sprang auf das etwas schwammige Schlagwort von einem Theater als „Spiegel zwischen Metropole und Provinz“ an und sicherte Fördermittel zu. Auch die Akademie der Künste und die Stiftung Kulturfonds unterstützen das Projekt. Das Volkstheater hatte nun einen Etat von 150.000 Mark, eine stilvolle Probe- und Premierenbühne und ein günstiges, wenn auch karges Quartier. Am 20. Januar begannen die Proben.

Weckherlin ist der Prototyp des engagierten Theatermachers. Ihm liegt viel daran, Beziehungen herzustellen, zum Beispiel von den Theaterleuten zu den Luckenwaldern. Es funktioniert: „Die Leute hier sind neugierig auf uns“, stellt Weckherlin zufrieden fest. Jugendliche dürfen bei den Proben zuschauen oder als Hospitanten mitmachen. Und das Theater hat eine Filmgruppe von SchülerInnen ins Leben gerufen, die eine Videodokumentation über ihre Stadt drehen werden.

Obwohl sie nur drei Monate in Luckenwalde bleiben und dann mit „Macbeth“ nach der Premiere am 23. März auf Tournee gehen – mit einem Zwischenstopp in der Berliner Akademie der Künste –, will das Ensemble möglichst nahe heran an die Kleinstädter. Distanziertes, entfremdetes Theater gebe es in Berlin ausreichend, meint Thorsten Weckherlin: „Wer da in eine der großen Bühnen geht, traut sich ja vor lauter Ehrfurcht nicht mehr, ein Stück auch mal schlecht zu finden.“

Anna Langhoff, die Regisseurin, fühlt sich zwar durch die Aufgabe herausgefordert, ein Publikum erst suchen zu müssen – „in Luckenwalde gibt es kein Theaterpublikum“ –, aber sie denkt nicht daran, sich der Provinz anzubiedern: „Das ist ein Stück für Berlin und Luckenwalde, für Paris und Dijon. Es beschreibt einen Moment, in dem eine alte Welt aus den Fugen bricht und eine neue noch nicht da ist. Und Macbeth nutzt diesen Moment.“

Shakespeares Drama als Endzeiterzählung: Das Volkstheater wird es seinen Zuschauern trotz der eifrigen Öffentlichkeitsarbeit nicht leicht machen. Da ist zum Beispiel der Luckenwalder Bürgermeister, der findet, daß man im Theater ruhig einmal schunkeln dürfe. Und auch unter den Besuchern, die lieber stillsitzen, werden einige sein, die sich an den Chiffren des Langhoff-Theaters die Zähne ausbeißen.

Weckherlin jedoch ist optimistisch. Er erinnert sich an die spannenden Gespräche, die im Anschluß an die Kroetz- oder Brecht- Inszenierungen des Tourneetheaters in den kleinen Städten geführt wurden. Jetzt organisiert er in Luckenwalde, während die Proben noch laufen, Diskussionsabende über die „zerbrochene Welt“ der Ostdeutschen. Anna Langhoff, die am Deutschen Theater und dem Berliner Ensemble inszeniert hat, sieht das Volkstheater auch als Experiment in der Theaterlandschaft, losgelöst von der Brandenburger Provinz: „Ich will herausfinden, ob die großen Theaterapparate meine künstlerische Arbeit behindern. Die Apparate beliefern zwar den Regisseur – wenn ich ein Stück blauen Stoff auf der Bühne will, dann kümmert sich auch jemand darum –, aber ich denke, sie lähmen auch.“

Langhoff erzählt vom Vorbild der französischen Provinztheatergruppen, die fast ausschließlich projektbezogen arbeiten, auf diese Art sehr günstig wirtschaften und gleichzeitig große Freiheiten haben: „Man kann sich aussuchen, mit wem man zusammenarbeiten will, für jedes Projekt die ideale Truppe zusammenstellen.“ Der Ausgang des Luckenwalder Experiments ist allerdings noch offen: „Schließlich habe ich hier gerade erst angefangen.“

Die Ansprüche sind hoch, an das Publikum und an das Ensemble. „Das Scheitern ist mit drin“, meint Weckherlin gelassen. Aber er ist sich mit der Kollegin Langhoff einig, daß das Risiko sich lohnt: Wenn „Macbeth“ in Brandenburg funktioniert, macht das Volkstheater im nächsten Jahr mit einem neuen Stück weiter. Vielleicht in Luckenwalde.

Die Regisseurin hat es eilig und muß zur Abendprobe, aber die Zeit reicht gerade noch, um das Kredo des Volkstheaters kämpferisch zu formulieren: „Ein Ensemble kann das simple Gesetz ,Nix Publikum, nix essen‘ nur dann nicht befolgen, wenn es im sozialdemokratischen Wattekissen des Subventionstheaters sitzt. Es anders zu versuchen, ist eine Herausforderung.“

Kontakt: Volkstheater, Parkstraße 73, 14943 Luckenwalde, Telefon: (03371) 61 60 44