BerlinMarcel Proust, Angela Merkel und die scheußlichen Plakate von Thor Kunkel: Mein erstes Ausland
Am Mittwochabend soll Stefan Zweifel an Proust erinnern. Die Nebenreihe des Internationalen Literaturfestivals Berlin heißt „Erinnerung, sprich“. Zweifel war durch die mit Michael Pfister erstellte Neuübersetzung von de Sades Hauptwerk „Justine und Juliette“ berühmt geworden, die er im Alter von 17 Jahren begonnen hatte. Später hatte er sich mit der Literaturkritikerin Elke Heidenreich angelegt.
Ich habe keine Vorstellung, was mich erwartet. Während ich mit dem Fahrrad Richtung Sonne fahre, ist mir ein bisschen wehmütig zumute. In den 80er Jahren war ich öfter im Institut Français gewesen und hatte mir zum Beispiel Bücher zum Thema „Heidegger et Nazisme“ ausgeliehen, was insofern gut passt, da Stefan Zweifel Elke Heidenreich vorgeworfen hatte, in einer Sendung Heidegger falsch zitiert zu haben, was zu allerlei Skandalen geführt hatte.
Außerdem hatte ich viel Proust studiert, um bei Hella Tiedemann eine Magisterarbeit zum Thema „Blicke bei Proust“ zu schreiben. Stattdessen war ich dann aber im Journalismus gelandet, Hella Tiedemann ist letztes Jahr gestorben, und der frühe Herbst ist meine Lieblingszeit.
Von der CDU-Zentrale lächelt das etwa 20 Meter große Gesicht von Angela Merkel wie ein Honigkuchenpferd herunter. Ich bin ganz überrascht, das Institut Français zehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn zu erreichen. Schnell kaufe ich mir noch ein Snickers. Ein paar Leute stehen im Vorraum des Instituts. Eine junge Frau erklärt, die Veranstaltung falle leider aus. Erst habe sich der eine, dann der andere krank gemeldet. Das ist ja wie bei Air Berlin!
Die junge Frau ist mir sehr sympathisch, allein schon wegen ihres leichten französischen Akzents. Frankreich war mein erstes Ausland und später hatte ich große Teile meines Bildungsromans mit französischen AutorInnen bestritten.
Als ich an einem dieser scheußlichen AfD-Plakate von Thor Kunkel vorbei fahre, fällt mir ein Tagebucheintrag aus dem neuen Buch („In die neue Zeit“) von Michael Rutschky ein. Am 29. September 1991 hatte er nach einem Besuch im „Osten“ notiert: „… und biedere ältere Muttis vertraten mit starker Selbstverständlichkeit die These, dass das Fernsehen Pornografie senden sollte, ohne jede Einschränkung, warum denn nicht?“
Vor dem Schlafen lese ich noch ein bisschen Proust. Zum Glück hatte ich mein Lieblingszitat markiert: „Nun aber hatte ich geträumt, Monsieur de Charlus sei hundertzehn Jahre alt und habe seine eigene Mutter geohrfeigt, Madame Verdurin, weil sie für fünf Milliarden einen Veilchenstrauß gekauft hatte.“ Detlef Kuhlbrodt
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