Berlin-Marathon: Lauter Lebensläufe

Eike Tank litt an Blasenkrebs. Nach 27 Chemotherapien läuft er am Sonntag in Berlin zum 53. Mal einen Marathon.

Fast 40.000 Teilnehmer liefen 2007 beim Berlin Marathon mit. Bild: ap

BERLIN taz Marathon in Berlin. Zum 35. Mal findet der große Volkslauf mit seinen etwa 33.500 Teilnehmern am Sonntag statt. Im letzten Jahr hat hier Haile Gebrselassie aus Äthiopien mit 2:04:26 Weltrekord gelaufen. Der Läufer, der sich hinter der Startnummer 28.794 verbirgt, Eike Tank, Jahrgang 1940, ist dem schnellsten Marathonmann der Welt schon einmal begegnet, beim Abebe-Bikila-Marathon in Addis Abeba.

Zum Laufen kam der 68-Jährige erst spät. Der Hobby-Bergwanderer und Nuklearmediziner, der lange radioaktiver Strahlung ausgesetzt war, hatte sich 2000 gerade für eine Wanderung im Lake Distrikt in England verabredet, als durch einen Zufallsbefund Blasenkrebs diagnostiziert wurde. Er wollte den Wanderfreunden absagen. Doch die hatten sich wegen einer Schlechtwetterprognose schon umentschieden. Statt Wandern wollten sie nun am Dublin-Marathon teilnehmen. Einen Marathon muss man gelaufen sein, bevor man stirbt, sagte sich Tank.

Bis dahin hatte Tank nur Höhenmetersteigen mit Gewichten im Treppenhaus des Klinikums geübt. Das Training für seine ersten 42,195 Kilometer empfand er als so "ätzend", dass er sich sagte: Wenn ich das schaffe, schaff ich auch die bevorstehende OP. Er überstand beides.

Doch der Krebs war im fortgeschrittenen Stadium und es wurde ein Programm aufgestellt, das 27 Chemotherapien und 26 Krankenhausaufenthalte beinhaltete und sich über vier Jahre hinschleppte. Da es einmal geklappt hatte, setzte der Pragmatiker nun jeder Chemo und jedem Krankenhausaufenthalt einen Marathon entgegen. Wenn Tank am Sonntag über die Ziellinie läuft, hat er seinen 53. Marathon vollendet.

Während Gebrselassie am Sonntag also versuchen wird, eine neue Bestzeit zu laufen, will Tank nur finishen wie bei den anderen Läufen davor. Berlin ist für ihn der Lauf vor Dublin im Oktober und Dublin der vor Athen im November. Und alle Läufe zusammen sind für den Vater von drei Töchtern ein Riesentrainingsprogramm für den einen großen Lauf mit seinem Enkelsohn Niels im Jahr 2021. Dann ist Eike Tank 81 und Niels darf mit 18 an seinem ersten Marathon teilnehmen. Alles soll dort enden, wo es begonnen hat: In Dublin.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Im letzten Jahr, als der Läufer aus Berlin-Lichterfelde vom Fin-del-Mundo-Marathon aus Feuerland zurückkehrte, wo ihm bei zwei Grad über null ein Wind der Stärke neun bis zehn um die Nase wehte, wurden neue Tumore entdeckt. Wieder folgten OPs. Und wie nach jeder Chemo musste er wieder bei null anfangen. Er trainierte wieder. Im Februar nahm Eike am Tokio-Marathon teil

Im Bierzelt hinter dem Ziel, wo jeder Neuankömmling mit einer Medaille und mehrsprachig mit einem großen Hallo begrüßt wird, werden ihn die anderen mit der Frage empfangen, warum er so lange auf sich warten lässt. Und während sich der 68-Jährige eine Fassbrause bestellt, wird er schulterzuckend zurückfrotzeln: "Was wollt ihr denn? Ich hab doch eine Topzeit. Zwei Stunden und 180 Minuten."

Die Medaille will er aber nicht lange behalten, denn sie ist schon als Geburtstagsgeschenk für einen "netten brasilianischen Herrn" verplant. "Der freut sich doch, wenn er von so einem Jungschen die Medaille überreicht bekommt." Dass der 90-jährige José Gila de Oliveira sich noch auf den Elf-Stunden-Flug begibt, um seine vier Töchter in Berlin zu besuchen und noch vor kurzem die Kraft hatte, die üppig wachsenden Kletterpflanzen vom Garagendach der Tanks zu reißen, imponiert dem 68-Jährigen. Da der Rentner beim Lauf an etwas Schönes denken will, läuft er seinen 53. Marathon für ihn.

In Potsdam war er mit der Flagge von Chile unterwegs, in St. Petersburg mit dem Ultraschallbild seines ersten Enkels. Fragt man Tank, welches Rennen für ihn am schönsten war, so weiß er keine genaue Antwort. München hat sein Olympiastadion, Tokio die höchste Servicequalität und Feuerland die schönsten Landschaften. Bei Läufen mit weniger Teilnehmern fühlt sich Tank am wohlsten und bei Cityläufen auf glattem Asphalt am sichersten. Außer auf dem "Berliner Acker".

Während am Sonntag die Augen der Welt auf die Zeiten der Ultraschnellen gerichtet sein werden, blickt der Läufer mit dem Schlauch in der Blase immer stur nach unten, um ja kein Stolperfalle zu übersehen. Vor seinem geistigen Auge aber sieht er den 90-jährigen Brasilianer Pflanzen ausreißen oder die Frauen aus Dublin, wie sie in Decken gehüllt vor dem Altersheim sitzen und mit Kochlöffeln auf Töpfe eindreschen, um das letzte bisschen Kraft aus den Läufern herauszulocken.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.