Benjamin Moldenhauer Popmusik und Eigensinn: Intensives Leben in Aussicht
Unsere Nachbarn hielten sich ein Huhn, das sie Ilse nannten. Mit dem Satz beginnt Dirk von Lowtzows Buch „Aus dem Dachsbau“, und in den folgenden Sätzen finden sich viele präzise Formulierungen, die von Eigensinn, Pop und der Normalität als eben nur fast ubiquitärer Verwurstungsmaschine erzählen. Für das Künstlersubjekt gibt es Fluchtmöglichkeiten, am Beginn des Wegs aber stehen wiederholt narzisstische Kränkungen. „Eines frühen Morgens, es war noch dunstig, stach ich, vor Wut und Rachsucht wie von Sinnen, auf den Fußball der Nachbarskinder ein“, schreibt von Lowtzow – Rache dafür, dass die Kinder einen nicht haben mitspielen lassen.
So steht am Anfang dieser alphabetisch sortierten Außenseitergeschichten nicht die heroische Rebellion. Die mehrfache Abkunft des Künstlerseins (entstanden aus Langeweile, begründetem Misstrauen, eben der Kränkung und dem Wunsch nach einem anderen, intensiven Leben) ist in vielen der Texte präsent. Pop hilft, weil er einem dieses intensive Leben in Aussicht stellt. Die Geschichte vom zerstochenen Fußball endet mit der Musik von Abba. „Die Harmoniegesänge und Discobeats versprachen mir, Einsamkeit und Isolation abstreifen zu können, aufgehoben zu sein in Musik und buntem Licht und mich im Tanz als glücklich zu erleben.“ Was etwas anderes ist, als glücklich „zu sein“. Nicht nur bei solchen Gelegenheiten nimmt der Autor es sehr genau.
Dirk von Lowtzow gelingen in seinen literarischen Texten und den Songs von Tocotronic Formulierungen, die Diffuses auf wenigen Zeilen zusammenziehen, klären und einen zugleich mit sanfter Gestelztheit auf einer distanzierenden Meta-Ebene halten. Der Kern der Erfahrungen, um die es hier geht, wird in „Aus dem Dachsbau“ auch dort noch berührt, wo es ins Fantastische abdriftet. „Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie sich Mitschüler freiwillig mit den Marsianern, die als Körperfresser in die Haut der Sportlehrer geschlüpft waren, verbündeten, um Unsportliche zu quälen.“
Die Texte korrespondieren in vielen Fällen mit dem letzten, ebenfalls autobiografischen Tocotronic-Album „Die Unendlichkeit“. Und wie auch auf den Platten ist da hin und wieder Leerlauf, da blättert man halt oder setzt die Nadel eins weiter. Alles in allem hellt die Arbeit dieses Mannes die Welt aber merkbar auf. Wie hier in Text und Liedern ein ästhetisches Paralleluniversum entfaltet wird (bestehend u. a. aus „Texte zur Kunst“, den Filmen von Fulci, Argento und Verhoeven, Yves Saint Laurent, Punk natürlich, Hubert Fichte, Thomas Bernhard), wie hier auch schlimmste Peinlichkeiten (man lese J wie „Junge Union“) auf eine kunstvoll dezente Weise als prägende Erfahrungen erinnert und in die literarische Konstruktion der eigenen Vergangenheit eingebaut werden – das ist schon ausgesprochen wahr und schön. Im verwandelnden Blick zurück entsteht, trotz wiederkehrenden Putzzwangs, Einsamkeit und zu viel Trinken, das Bild eines geglückten und eigensinnigen Lebens.
Di, 12. 11., 20 Uhr, Schlachthof
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