Benjamin Moldenhauer Popmusik und Eigensinn: Die Stones der 90er
Mit jedem Motorpsycho-Album, das ich auflege, stellt sich ein Vertrauen in die Konstanz und die Ordnung der Welt ein. Solange die Platte läuft – nach dem letzten Stück zerstäubt sich der Eindruck und sie, die Welt, erscheint wieder unverhüllt, also fragmentarisch, chaotisch und potenziell irritierend. Aber für eine knappe Stunde wenigstens sind alle Widersprüche geglättet, also auf Pause gestellt. Das schaffen Motorpsycho, nur mit ihrer Musik.
Die klingt, als wolle sie die Rock-Geschichte komplett aufnehmen, von Black Sabbath über Led Zeppelin und Progrock bis hin zu Hüsker Du. Um sie dann zu verarbeiten und als Konzentrat wieder herzugeben. Auch wenn das aktuelle Album „The Crucible“ – drei lange Stücke, in denen Laut auf Leise und Gesangspassagen auf Gitarrensoli folgen – zu den weniger inspirierten zählt: Die Unterschiede zwischen den Alben sind nicht entscheidend, entscheidend ist die Kontinuität. Die Ruhe, die Motorpsycho ausstrahlen, ist begründet im stoischen Beackern eines klar definierten Feldes (Bass, Gitarre, Viertel-Takt plus ein wenig Geplöng). Der in den letzten zehn Jahren immer gleichmäßigere Produktionsrhythmus der Band schenkte einem ein Gefühl wohliger Beständigkeit auch in Lebensabschnitten, in denen so einiges über Kopf ging.
Seit zwei Jahrzehnten spielen Motorpsycho alle ein, zwei Jahre im Schlachthof. Beim ersten Mal, das war die Tour zu „Angels and Daemons at Play“ war das neu und aufregend. Die Songs wurden gedehnt und zerspielt und wieder zusammengesetzt, und das nie selbstzweckhaft, sondern immer getragen von einer alles durchdringenden Spielfreude. Inzwischen freut man sich über Wiederholung und Tradition.
Vielleicht sind Motorpsycho also auch so etwas wie die Rolling Stones derer, die in den Neunzigerjahren mit der damaligen Independent-Musik groß geworden sind. Unvergessen bleibt für mich der Familienvater, der beim Hannover-Konzert der Stones 2003, den Bierhelm auf dem Kopf, die Band während des ersten langen Gitarrensolos brüllend anfeuerte: „Keith Richards! Halte durch!“ Der gute Wunsch galt erkennbar auch sich selbst. Der bierbehelmte Mann aus Hannover ist Sinnbild auch des Motorpsycho-Fans, der jedes Jahr wieder aufs Konzert rennt, um sich zu beruhigen: Mit dem Schrei versicherte der Fan sich der Illusion der eigenen Unsterblichkeit.
So, 29. 9., 20 Uhr, Schlachthof
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen