Benjamin Moldenhauer Popmusik und Eigensinn: Klänge aus dem Gully
Kultureller Abhub taugte für lange Zeit als Mittel zur Abgrenzung gegen alles Etablierte und Gesetzte. Wie es heute ist, ich weiß es nicht. Einst jedenfalls machte der junge Mensch klar, dass er nicht mittun wird beim Treiben der Erwachsenen, indem er sich zum Beispiel ein Hemd mit Ekelbildchen anzog und Musik hörte, die den Eindruck erweckte, jemand würde eine Herde Rinder durch einen verrosteten Häcksler schicken.
Die Death-Metal-Band Cannibal Corpse ist seit 1988 ein Paradebeispiel für juvenile Distinktion mit dem Vorschlaghammer. Die Alben-Cover gehören nach wie vor zu den hässlichsten: Blut und Gehacktes in Comic-Ästhetik, Innereien überall, auch noch schlecht gezeichnet. Alles hier sollte falsch sein, moralisch und ästhetisch. Napalm Death ließen sich noch über die politische Haltung andocken an erwachsene Diskurse, Death bestachen durch Virtuosität. Cannibal Corpse klang einfach nur nach Gully.
Ist das nun gut, ist es schlecht, was soll man davon halten? Eins der bekannteren Stücke dieser Band heißt „Fucked with a Knife“, und so was findet, einerseits, nur lustig, wer null Erfahrungen mit Gewalt hat und auch sonst wenig weiß von der Welt. Andererseits gibt es auch in diesem Lied noch eine grundlegendere, wichtige semantische Ebene, auf der eben auch schlimmer Scheiß passiert: ein pubertäres Pathos, das den drastischen Spielarten der populären Künste inhärent ist.
Paul, eine Figur aus Dietmar Daths Briefroman „Die salzweißen Augen“, bringt dieses Pathos auf den Punkt: “‚Du darfst nicht vergessen‘, hat er einmal gesagt, als es darum ging, dass alle Erwachsenen tot sind und es nicht wissen, ‚dass das, was du nicht sagen darfst, aber denkst, mehr mit dir zu tun hat als das, was andere von dir hören wollen, mehr als das, was andere für dich und deine Besonderheiten halten.‘“ Es folgt ein Exkurs über den Hass, den man sich abtrainieren muss, um weiter zu kommen – „Dabei bist du das selber, dieser Hass, und es lohnt sich nicht, weiterzukommen, wenn man sich selber dabei nicht mitnehmen darf.“
Ausgehend von Pauls Schulhofmonolog kann man die Alben von Cannibal Corpse retrospektiv auch mit Wehmut hören: „Haß, zielloser Tatendrang, Zerstörungslust, Geilheit“, sagt Paul, „alles, wovon die Platten und Filme handeln, die uns gefallen: Das ist wirklich wichtig. Man vergisst es später nur, weil man vor lauter Angst verblödet.“
Der renitente Pubertierende weiß: Lieber ein Leben lang „Fucked with a Knife“ als ein bürgerliches Wesen werden. Später dann allerdings hier wie dort Praktikum, Großraumbüro, Betriebsfeier etc. Ein Entrinnen ist nicht vorgesehen.
Tivoli, 2.7., 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen