■ Bemerkungen zur Kritik an Daniel Cohn-Bendit: Noch heißt „Friede“ Tod und Vertreibung für die Bosnier
Stellen wir uns doch nur einen Moment vor, bitte, Frieder Otto Wolf, Ekkehart Krippendorff und Ludger Volmer, nur einen einzigen Moment: Die bosnische Regierung würde über kein einziges der Gewehre und keine der Maschinenpistolen verfügen, die zu erwerben die internationale Gemeinschaft und die Internationale der Kriegsgegner ihr von Anfang an untersagt hatte. Was wäre? In der Tuzla- Region gäbe es nur bosnische Serben und Gräber, überall herrschte Karadžić, und Sarajevo wäre längst die Hauptstadt des serbischen Bosnien.
Karadžić hat die Vernichtung der Muslime mehrfach angedroht. Vielleicht gäbe es ein paar muslimische „Kollaborateure“ wie den Kaufmann Abdić, aber der größte Teil der muslimischen Bosnier wäre tot oder hätte, wie schon jetzt viele ihrer Landsleute, ins Ausland fliehen müssen (die meisten nach Deutschland). Den nach UNO- Verdikt illegalen Waffen der Bosnier verdankt die UNO, verdankt Europa viel. Ohne diese müßten sich vielleicht auch Italien und andere Anrainer bequemen, Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen.
Nein, wir sitzen nicht mehr vor Mutlangen, um die Aufstellung von Raketen zu behindern. Die atomare Abschreckung funktionierte mehr oder weniger. In Bosnien kämpfen extrem schlecht bewaffnete Soldaten gegen vorzüglich bewaffnete und lassen sich gegenseitig nicht „abschrecken“. Die serbische Seite nicht, weil sie die besseren Waffen und die aggressiveren Ziele hat. Die bosnische Seite nicht, weil sie die größere Angst hat: die Angst vor Vernichtung. Es gibt kein Gleichgewicht zwischen den „Parteien“.
Was stellen sich denn all die Friedensfürsten von Schmückle, über Krippendorff hin zu Augstein vor, die strikt jedes militärische Drohpotential gegen Karadžić ablehnen? Es ist die tödliche Annahme einer auch nur annähernd gleichartigen Gegnerschaft. Doch es geht nicht nur um Ungleichheit der Waffen. Die bosnischen Serben verfügen über das gesamte Arsenal der von Ost und West aufgerüsteten jugoslawischen Armee. Es geht um andere, tödlichere Ungleichgewichte. Von Anfang an.
Heute verfügen die Bosnier nirgends über eine eigene Verbindung zur Außenwelt. Keinen Quadratmeter. Im Westen können die Herzegowina-Kroaten ihnen jeden Kontakt zum Ausland sperren. Im Osten, Norden und Süden die Serben. Bis heute peinigt die Bosnier in Tuzla und Zenica die Angst vor einer Wiederholung der Absperrung des Jahres 1993. An keiner Stelle verfügt Bosnien selbst über die Schlüssel zum Tor nach draußen.
Noch schafft dieser Krieg für die Bosnier mehr Sicherheit als die Kapitulation! Das ist die grausame Wahrheit. Es gibt keine Nachricht, keine einzige aus einem der von bosnischen Serben besetzten Gebiete, in denen es nach der Eroberung eine auch nur halbwegs normale Lebenschance für die Unterlegenen und Unterworfenen gab. Mord, Terror, Vernichtung und Vertreibung. (Ich habe in dieser Zeitung seit 1992 immer wieder auf die Formen dieses Völkermords hingewiesen, die die überlebenden Flüchtlinge etwa aus Banja Luka berichtet hatten. Es war Völkermord. Von Anfang an.)
Die bosnischen Serben bauen einen in Europa nach den Nazis einmaligen Staat auf: die nach Religion und Abstammung „rassisch“ reine Republik. Ob diese nun sozialistisch, nationalistisch oder national-sozialistisch genannt wird, ist nebensächlich. Sie gibt sich rassistisch und religiös-terroristisch.
Hier liegt für mich der Schlüssel. Darum sei er wiederholt, der schreckliche Gedanke: Für die Bosnier kommt ein Ende des Krieges erst in Frage, wenn das Überleben konkret gesichert werden kann. Das aber ist bisher nicht das Ziel der Friedenspläne der „Kontaktgruppe“ oder der Pazifisten in den verschiedenen Parteien. Der Sieger steht ja längst fest. Der Siegfrieden auch. Aber dieser Sieger hat bisher an keinem Punkt die Mindestregeln auch nur des Rotkreuzabkommens aus dem vorigen Jahrhundert respektiert.
Wir kennen Fälle, wo bosnische Soldaten die Waffen fortgeworfen hatten und dann erschossen wurden. Nein, sie haben keine Überlebenschance im ungeschützten Frieden, solange wir, über Landkarten gebeugt, immer noch dem tödlichen Irrglauben nachhängen, es ginge um „ethnische“ Konflikte, an deren Ende die „ethnische“ Entzerrung der Bevölkerung stehen dürfe.
„Wer eine Internationalisierung der Außenpolitik will, muß auch die Internationalisierung der Verantwortung übernehmen.“ In Cohn-Bendits Schlußsatz steckt der Kern des Dilemmas und der Schlüssel zu unserer Mitschuld. Mir geht es in diesem Beitrag nicht um eine Diskussion der Grenzen Europas oder der Verantwortung in und für Afrika. Mir geht es um die kaum noch erträgliche Papiermoral der vom Kalten Krieg geprägten selbsternannten Pazifisten, an welcher Universität Ekkehart Krippendorff auch lehrt oder an welcher Partei Ludger Volmer auch arbeitet. Das Dilemma der Kalte-Kriegs-Pazifisten betrifft alle Parteien. Auch meine eigene.
Stanley Hoffmann, der Europäer aus Harvard, hat sehr präzise die bosnische Realität beschrieben: Die Appeasementpolitik der dreißiger Jahre gegenüber Mussolini und Hitler wiederholt sich Schritt um Schritt. (Und daran hatten 1935 und 1938 nun wahrlich nicht die damaligen Pazifisten schuld, sondern die britische und französische Regierung.) Auch für Äthiopien akzeptierten die großen europäischen Staaten einen Teilungsplan zugunsten Mussolinis (den er nicht akzeptierte, weil er das ganze Land wollte), auch für die damalige Tschechoslowakei akzeptierten die Westeuropäer ein gewisses Eingriffsinteresse Hitlers zugunsten der Sudetendeutschen. Es fällt mir schwer, in der eiskühlen Sprache der politischen Analyse einen Prozeß zu beschreiben, der Cohn-Bendit zu seinem verzweifelten Warnruf gebracht hat und der Europa mehr raubt als nur den Schlaf.
Natürlich müßte die Bundeswehr nun, da sie angefordert wurde, den Schutz der Blauhelme mittragen. Aber das ist nun wahrlich nicht das zentrale Problem. Die Blauhelme haben, ohne deutsche Beteiligung, bisher die Versorgung der Menschen mehr oder weniger garantiert. Keine Tonne Lebensmittel und kein pazifistischer oder journalistischer Besucher hätte Srebrenica, Cerska oder Sarajevo erreicht ohne die Mithilfe dieser Soldaten aus mittlerweile 18 Staaten.
Was muß geschehen?
1. Radikale Änderung der Vorgehensweise der „Kontaktgruppe“: Kalender statt Landkarten. Keine Prozentquoten für Land mehr vorschlagen, sondern einen Zeitplan für die wichtigsten Perspektiven und Interessen der Menschen aufstellen, zunächst unabhängig von wirklichen oder imaginierten Grenzen. Das heißt: völliger Verzicht auf die Erörterung der künftigen Staatsform oder anderer Staats- oder völkerrechtlicher Ordnungspläne, und dies für mindestens ein Jahr.
2. Das UNO-Drohpotential ökonomisch und militärisch glaubhaft aufbauen für drei Ziele:
– humanitäre und medizinische Versorgung der Menschen;
– Beginn wirtschaftlichen Lebens auch zwischen den getrennten Gebieten;
– freiwillige Rückkehr erster Flüchtlinge.
Solcher Verzicht auf die Landkarte könnte die Chance in sich bergen, daß auch London und Moskau gemeinsam mit den Mitgliedern des Sicherheitsrates zur Androhung bereit sind. Dem dürften sich die Deutschen nicht verweigern. Auch die Pazifisten hier müssen Abschied nehmen von ihrem Doppelleben: globaler Frieden auf dem Papier und nationales Nein in der Realität.
„Deutschland, Deutschland gegen alles“, das wäre die gefährlichste Hymne im 21. Jahrhundert. Freimut Duve
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