■ Bischofferode und die Krise der Politik: Belogen und betrogen
Wer im Westen immer noch meint, beim Hungerstreik der Eichsfelder Bergleute gehe es lediglich um einen lokalen Konflikt und um das sture Beharren auf Arbeitsplätze, die wegökologisiert gehören, soll endlich aufwachen. Wut und Verzweiflung der Kalikumpel drücken deren gesamte Erfahrung seit der Wende aus. Sie und ihre Kollegen in vielen anderen Betrieben der ehemaligen DDR wurden belogen und betrogen, weit über die Grenze des Erträglichen hinaus. Sie wollen weder Mitleid noch Almosen, sondern eine Perspektive für sich, ihre Familien und die Region, in der sie leben und die bis jetzt keine Zukunft hat.
Strukturumbrüche wie im Ruhrgebiet, die im Westen über Jahrzehnte gingen und mit den Mitteln und dem Instrumentarium regionaler Entwicklungspolitik gesteuert und begleitet wurden, schlagen hier binnen kürzester Zeit auf den größten Teil der arbeitenden Bevölkerung nieder. Es ist einfach eine Lüge, daß dieser Prozeß unabwendbar und für alle Beteiligten gleichermaßen belastend sei. Trotz des Konjunktureinbruchs gehören große Teile der westdeutschen Industrie zu den absoluten Gewinnern der Verteilungskämpfe. Um ihre politische Klientel nicht zu verprellen, tat die Bundesregierung faktisch alles, was das sozialökonomische Gefälle festigen mußte, anstatt unpopuläre aber realistische Forderungen und Ratschläge ernst zu nehmen. Die Treuhand entzieht sich weiterhin jeder demokratischen Kontrolle und ist auf eine Weise organisiert, die zu Mißbrauch und krimineller Bereicherung geradezu einlädt.
Kampagnen wie die „Rettung der industriellen Kerne“ zeigen ihren Schlagwortcharakter und ihre Kurzatmigkeit, weil sie ohne ein langfristiges finanz- und industriepolitisches Konzept nicht greifen können. Ein solches Konzept aber müßte mit den Einschnitten in das Einflußgeflecht der Vereinigungsgewinner ernst machen und würde an die Substanz des westdeutschen Vorsprungs gehen.
Die Dramatik der Vorgänge in Bischofferode ist auf diesem Hintergrund zu sehen. Einer Landesregierung, die man in der finanziellen und politischen Abhängigkeit von Bonn sieht, traut man nicht zu, die eigenen Vorschläge nach Jahresfrist noch durchzuhalten, und einer Gewerkschaft, die sich vor der mühsamen Interessenvertretung versteckt und den Betrug sanktionieren will, werden die letzten Mitgliedsbücher um die Ohren fliegen. Jede andere Lösung des Konflikts ist besser als ein neues Betrugsmanöver. Das haben die Menschen in Bischofferode und anderswo verstanden. Was sich dort zeigt, sind nicht die „Gespenster der Vergangenheit“, sondern ein Vorschein auf die Härte künftiger Auseinandersetzungen. Wolfgang Templin
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