Beliebte Namen: Kinderkrankheit Leonismus
Wer seine Kinder nicht schon bei der Geburt bestrafen will, sollte auf Modenamen wie Leon und Lena verzichten. Bei Personalabteilungen könnten sie später mal für Pisa und Hartz IV stehen.
Berlin erlebt derzeit einen Mini-Baby-Boom. Von Januar bis August dieses Jahres wurden in der Hauptstadt insgesamt 19.579 Babys geboren, 4,6 Prozent mehr als in den ersten acht Monaten 2006. Dieser Boom dürfte auch 2008 anhalten. Für die werdenden Eltern stellt sich die große Frage: Wie nenne ich mein Kind? Leoni oder Aylin? Die taz rät: weder noch.
Wer in zwei oder drei Jahren auf einem Spielplatz in Friedrichshain oder Prenzlauer Berg nach Fynn, Lena, Leon oder Leoni ruft, der sollte sich nicht wundern, wenn gleich eine ganze Kinderschar angelaufen kommt. Wie bereits im Vorjahr stehen diese Namen unter Berliner Eltern auch 2007 ganz oben auf der Hitliste. "Heute wird die Namensgebung sehr stark durch Modetrends vorangetrieben", sagt der Berliner Soziologe Jürgen Gebhards. Dies dürfte für Kinder nicht immer von Vorteil sein.
"Wenn Kinder mit diesen Namen in 20 oder 30 Jahren auf Jobsuche gehen, könnten sie es schwer haben", sagt eine Personalmitarbeiterin einer Berliner Firma. Sie glaubt, dass man mit diesen Namen später einmal die Nuller-Jahre assoziieren wird: Miserable Pisa-Ergebnisse, Hartz IV und gescheiterte Start-up-Unternehmer vom Prenzlauer Berg, die auch mit 35 Jahren noch von ihren Eltern aus Bayern und dem Schwabenland finanziert werden. Während der "Kevinismus" (bei Mädchen "Mandyismus") für die weniger gebildeten Schichten Ostdeutschlands der 90er-Jahre stand, könnte in Berlin irgendwann mal der "Leonismus" für die einfallslosen Eltern der Nullerjahre stehen.
Der Soziologe Gerhards weist darauf hin, dass mit einem Vornamen nicht nur das Geschlecht, sondern auch das Alter, eine Region und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht verbunden wird. "Es gibt so etwas wie schichtspezifisches Namensverhalten", sagt Gerhards. Während vor allem das Bildungsbürgertum auf Elite bedacht ist und Namen auswählt, die selten sind, hätten die unteren Schichten weniger Probleme damit, einen Namen auszuwählen, der von vielen benutzt wird. Gerhards: "Es gibt einen Trendsetter. Mit der Zeit wird der Name nach unten durchgereicht und zum Massenartikel. Dann müssen sich die Trendsetter was Neues einfallen lassen."
Gerhards hat in einer Studie tausende deutsche Geburtsregister der vergangenen hundert Jahre ausgewertet und die unterschiedlichen Namenstrends untersucht. Der gängigste Bezugspunkt sei lange Zeit die Bibel und die Namen von Heiligen gewesen. Mit dem Entstehen des deutschen Nationalismus kamen alte deutsche Namen wie Wilhelm, Hermann, Ulrike und Friederike hinzu. Auch an den Namen der Eltern und Großeltern habe man sich lange orientiert, so Gerhards. Mit der Delegitimation der deutschen Traditionsbestände nach 1945 wurden diese deutschen Namen seltener und Namen aus dem angloamerikanischen und romanischen Bereich waren angesagt.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ging der Trend zu extravaganten Namen. Zumindest weist die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) darauf hin, dass es mit einer Zahl von weit über 100.000 noch nie so viele verschiedene Vornamen gegeben hat wie derzeit. Plötzlich sind auch Namen wie Cheyenne, Sinja, Anakin oder gar Tarzan kein Tabu mehr.
Gerhards hingegen sieht nun den Trend zurück zu alten Namen. "Es gibt eine Renaissance deutscher Namen, was aber anders motiviert ist", so der Soziologe: "Nicht zur Pflege der deutschen Traditionslinie, sondern eher modegeneriert." Plötzlich gibt es in den Kitas wieder Paul, Karl und Emily.
Doch nicht alle Namen stehen für bestimmte Modephasen. Bewerbungsmappen von Maria, Sarah und Anne bei den Mädchen und Alexander, Michael und David bei den Jungs dürften auch in 20 Jahren nicht voreilig auf dem Altpapierstapel landen. Sie gelten als zeitlos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr